A moment like this

Es gibt eine Vielzahl von Studien, die besagen, dass man sich in Lebensphasen viel deutlicher an das Schlechte erinnert, das man vor kurzem erlebt hat. Das hat mit verschiedenen Funktionen im Gehirn zu tun. Hier ist ein spannender Artikel zu einer neurowissenschaftlichen Studie aus einer Universität in Bochum, die ein Experiment dazu durchgeführt hat.


Und trotzdem sind wir Menschen oft so programmiert, dass wir davon überzeugt sind, dass früher alles besser war, dass die Dinge besser gelaufen sind. Wir wünschen uns ständig irgendetwas aus der Vergangenheit zurück. Sicher ist jeder Mensch individuell – das merkt man schon daran, dass man zwei Personen eine Situation beschreiben lässt und es vorkommt, dass jeder sich an komplett unterschiedliche Dinge erinnert. 
Nicht alle denken, dass früher alles besser war, aber statistisch gesehen ist es doch eine große Mehrheit. Wer nochmal nachlesen will, kann sich auch diesen Artikel mal ansehen. Ich fand ihn sehr aufschlussreich.



Ich bin selbst absolut nicht frei davon. Ich erwische mich oft dabei, wie ich in schwierigen Momenten denke: im letzten Jahr war alles besser. Das lässt sich auf beliebige Lebensbereiche übertragen. Arbeitsleben, Freundeskreis, Lebensstil, mentale Gesundheit. 
Ich suche dann oft nach schönen und bedeutungsvollen Momenten der letzten Wochen und Monate, um mir immer wieder ins Gedächtnis zu rufen, wie abwechslungsreich das Leben ist. Jedes einzelne Jahr. Kein Zeitraum ist entweder immer nur schön oder schlimm, nur leicht oder schwer, nur schwarz oder weiß. Es wäre einfacher, es so zu sehen, aber auf lange Sicht ist es destruktiv.
Hier passiert so viel. Wirklich SO viel. Wenn ich meinen besten Freundinnen oder Familienmitgliedern Sprachnachrichten sende, in denen ich versuche, mehrere Tage oder Wochen zusammenzufassen, komme ich fast nie unter 10 Minuten raus. Weiß ich nie, wo ich anfangen und wo wieder aufhören soll. 
Manchmal fängt ein Tag ganz normal mit Aufstehen und Kaffee an und innerhalb der nächsten 14 Stunden passieren mindesten zehn verschiedene Dinge, Begegnungen und Situationen, die mich alle unterschiedlich berühren. Und am Ende des Tages, spät in der Nacht, liege ich noch wach, starre in die Dunkelheit und bin erstaunt, überwältigt, nachdenklich über all das, was ich erleben durfte. Mein Unterbewusstsein verarbeitet ohne Ende, jeder einzelne Traum ist ein verrückter, überladener Film. Inzwischen sehe ich in meinen Träumen auch People of Colour – ich habe mich oft gefragt, wie lange das wohl dauern wird. Jetzt sind alle vertreten.
Ich denke oft darüber nach, an was ich mich erinnern werde, wenn ich in ein paar Jahren auf meinen Freiwilligendienst zurückschauen werde. Und ich möchte ein Gehirn mit mehr Kapazität, ich würde viel dafür geben, mir für 2,99 Euro im Monat einfach ein bisschen Speicherplatz dazubuchen zu können. Wenn in 3 Monaten schon so unendlich viel passiert ist, habe ich wirklich Respekt vor den weiteren 6, die jetzt noch kommen werden. 
Meinetwegen könnte es auch alles etwas ruhiger laufen. Gerade im März gab es einige emotionale Herausforderungen, nach dem Höhenflug der ersten zwei Monate holt mich in manchen Aspekten die Realität ein. Ich merke, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, an dem mein Durchhaltevermögen gefragt ist. An dem ich mich wirklich anstrengen muss.
In den letzten Wochen bin ich mehr als einmal an meine persönlichen Grenzen gekommen. Ich habe unter Stress schon viel zu viel geweint, mich dann danach dafür scharf kritisiert und war generell sauer und frustriert über mich selbst. Weil ich das Gefühl nicht ausblenden kann, dass alle anderen Freiwilligen dasselbe erleben wie ich und es im Gegensatz zu mir mit links schaffen. Ich fühle mich schwach und oft auch unfähig. Ab und an habe ich ehrlich den Gedanken, ob ich das alles hier noch möchte. Noch kann. 
Und jedes Mal sagt mir mein Bauchgefühl genau dasselbe wie kurz vor Gambia, und ganz am Anfang von Gambia. Ja, ich möchte das. Doch, ich kann das. Ich habe so viel aufgegeben und investiert, um hier zu sein. Ich bin viel zu weit gekommen, um jetzt hinzuschmeißen. Ich will verdammt nochmal nicht mehr der Mensch sein, der so leicht aufgibt, ich muss dieses Muster durchbrechen. Wenn ich einfach gewollt hätte, hätte ich meinen Freiwilligendienst in Amerika oder Asien machen können, wo mir die Dinge schon vertraut sind, aber ich wollte genau das hier. 
Und nicht nur ich war an dem Prozess beteiligt, hierherzukommen, am Ende waren es so unglaublich viele Menschen, eine berührend große Anzahl an Freunden und Verwandten und Bekannten, die dafür gesorgt haben, dass ich jetzt da bin, wo ich gerade bin. Durch Spenden, durchs Teilen meiner Kampagne, durch Unterstützung mit dem nervenaufreibenden Papierkram, durch Mut machen, Zuspruch und Stolz. Wir haben das alles zusammen geschafft. Ich stelle mir vor, dass ich und all diese Menschen in einem Boot sitzen. Am besten so ein schönes typisch gambisches Fischerboot.

Ich glaube fest daran, dass man sich größtenteils nur außerhalb der eigenen Komfortzone weiterentwickeln kann. Auch wenn das schmerzhaft ist. Gerade, weil das schmerzhaft ist. Manche Momente haben sich hier schon so aussichtslos angefühlt, aber ich weiß, dass das alles Teil des Plans ist. 

Und wenn ich mit Belastungen anders umgehe als meine Mitmenschen, dann ist das so. Vielleicht weine ich in den Augen der Gesellschaft zu viel, vielleicht treffen mich manche Dinge mehr, nehmen mich viel heftiger mit. Das ist meine Persönlichkeit, das kann ich nicht ändern. Ich habe Jahre meines Lebens damit verbracht, zu versuchen, "härter" zu werden. Und ich habe damit nichts erreicht, außer noch gestresster zu sein, weil ich nicht härter werden konnte. Diese Thematik verfolgt mich überallhin, logischerweise auch hierhin, nach Afrika. Und seitdem ich vor ein paar Tagen beschlossen habe, meine Gefühle so anzunehmen, wie sie sind, geht es mir besser.

Also, hier: für mich selbst und für alle. Hier kommt eine Bestandsaufnahme der schönsten Momente der letzten dreieinhalb Monate.



Ich bin mit E und seinen Freunden auf einer Naming Ceremony* in Gunjur. Mein kleiner, A, ist übers Wochenende bei mir und liegt müde vom Abendessen im Halbschlaf auf meinem Schoß. Beobachtet das Treiben. Wir haben gerade Huhn in Zitronen – Senf – Sauce gegessen, mit rohen Zwiebelstücken (ein göttliches Gericht) und ich nippe an meinem Tamarindensaft. Bin müde, satt, zufrieden. Der Himmel ist von blassrosa Streifen durchzogen. Neben uns tanzen die Frauen dieser Gesellschaft, manche trommeln, alle singen. Ich frage E, was der Text bedeutet (es ist ein Lied auf Mandinka) und er beugt sich zu mir herüber, weil es so laut ist. Ich rieche die Pfefferminzbonbons in seinem Atem, nach denen er so krass süchtig ist. Vertraut. Beruhigend. „Sie singen: Where is the love?“ antwortet er. Und dann: „It is in the atmosphere.“ 
„Oh mein Gott, wie schön.“
Ja, oder?“ 


Ich komme von irgendeinem Strandausflug aus Gunjur zurück nach Hause. In Gunjur und Brikama gibt es seit Stunden mal wieder keinen Strom. Sonst schauen meine Familienmitglieder abends immer fern, aber da das heute nicht möglich ist, liegen F und A draußen im Innenhof des Compounds auf einem großen Gebetsteppich. Ein paar der Nachbarn sitzen auch dabei. 
Ich lege mich mit auf den Gebetsteppich. Irgendjemand in der Nähe kocht Ataya, der angenehme Geruch nach verbranntem Zucker weht herüber, A spielt Musik auf seinem Tablet ab, und er und F singen leise mit. Wir liegen noch lange draußen und schauen in die Sterne, bis ich zu viele Mückenstiche habe und wieder reingehen muss.


Ich nehme A das erste Mal an einem sonnigen Morgen mit an den Strand. Wir haben Saft und Kekse mitgebracht und bestellen uns in der angrenzenden Lodge* noch Spiegelei. Dann machen wir es uns auf zwei Sonnenstühlen gemütlich und frühstücken mit Blick aufs Meer. A traut sich zwar nicht, ins Wasser zu gehen, ist aber allgemein begeistert vom Meer und rennt stundenlang zwischen Sand und Wasser auf und ab. Wenn das Wasser seine Füße berührt, kreischt er vor Lachen. Es ist so berührend zu sehen, wie er sich über so etwas einfaches freuen kann. Später möchte er überhaupt nicht gehen und ich muss viel Überzeugungskraft aufwenden.


Ich probiere zum ersten Mal eine Papaya. Was für eine herrliche Frucht!


Es ist der 18. Februar, Gambias Unabhängigkeitstag. Gestern war E's 27. Geburtstag, und wir haben alle zusammen in seinem Compound gefeiert. Die anderen Freiwilligen sind noch am gleichen Abend nach Hause gefahren, aber ich übernachte auf dem Vereinsgrundstück, weil ich mir am nächsten Tag noch ein lokales Fußballspiel anschauen möchte. Ich und E sitzen noch bis 2 Uhr nachts zusammen und schauen uns die ganzen Fotos an, die beim Geburtstag entstanden sind, und dann gehe ich müde und zufrieden rüber in mein Haus, ins Bett. "Schlaf in Ruhe aus und komm dann einfach wieder rüber, wenn du wach bist" sagt E noch zu mir. 
(E wohnt eigentlich in einem großen Compound 20 Minuten entfernt. Er und sein Vater haben aber noch einen Zweitwohnsitz mit Garten auf dem Land direkt neben dem Vereinsgrundstück.) 
Und das tue ich dann auch, schlendere gegen 11 in meinem Pyjama rüber auf sein Grundstück, und das Frühstück ist schon fertig. Was für ein Luxus. E's Vater und einige seiner Freunde sitzen auch in der Runde, sowie E's kleiner siebzehnjähriger Bruder, Y. Y ist eine Miniversion von E, die gleichen Gesichtszüge, das gleiche Lächeln, absolut hinreißend. Ich bin jedes Mal gleichermaßen fasziniert wie gerührt, wenn ich beide zusammen sehe. Wir frühstücken Brot mit Schokocreme und Bananen und trinken Kaffee. H, E's Freund und Mitbewohner, kommt irgendwann von der Gartenarbeit zurück und gesellt sich zu uns. Y trägt den Fernseher nach draußen ins Freie und schließt ihn an Verlängerungskabel an, damit wir uns die Paraden zu Ehren des Unabhängigkeitstages anschauen können. E holt den den Mini - Grill, um Ataya zu kochen. 
"Heute machen wir uns einen schönen Ataya - Tag" sagt er gut gelaunt. Und ich kann mir nichts schöneres vorstellen, heute einfach draußen im Pyjama dazusitzen und in dieser Gesellsaft meinen Lieblingstee zu trinken. 
Die nächsten Stunden verbringe ich entspannt im Liegestuhl, nehme einer meiner besten Freundinnen eine lange Sprachnachricht auf, schreibe Tagebuch, trinke ein Gläschen Ataya nach dem nächsten und albere mit E und H herum. Ich bin ruhig und zufrieden und kann mir in diesem Moment gar nicht vorstellen, jemals wieder gestresst zu sein. 
E fällt das auch auf. "Schau mal, wie relaxed du bist" sagt er und lächelt mich glücklich an. 
H möchte wissen, warum E das so besonders findet. 
"E hat mich schon zu oft weinen gesehen, seitdem wir uns kennen" erkläre ich und muss lachen. "Er kommt irgendwie immer zu ungünstigen Momenten." 
E grinst auch breit. "Ja, genau. Ich will das nicht mehr sehen." 
Irgendwann machen wir uns fertig und fahren zum Fußballfeld in Gunjur. (Gunjur spielt heute gegen Brikama, und ich bin im Konflikt, wen ich nun unterstützen soll.) 
Das letzte Spiel hatte ich mir auch schon zusammen mit meiner Freundin F angeschaut, Brikama gegen Siffoe. Siffoe hatte gewonnen. Wer heute gewinnt, tritt gegen Siffoe im Finale an. Es wird also spannend. 
E und ich kriegen einen Platz ganz vorne und haben eine super Sicht, aber eigentlich quatschen wir mehr, als dass wir zuschauen. F ist mit anderen Freunden da und kommt herüber, um mich zu begrüßen. Nach 90 Minuten plus Verlängerung gilt das Spiel als unentschieden. Das verstehe ich zwar nicht, aber ich habe ja auch nicht besonders gut aufgepasst. Gambische Regeln. E hilft mir noch, ein Bustaxi zurück nach Brikama zu finden, und ich erwische das erste Mal, seit ich in Gambia bin, den Platz ganz vorne neben dem Fahrer. Was für ein Glück. Wir fahren zurück und der Himmel ist rötlich gefärbt durch den Sonnenuntergang. Zurück in Brikama, mache ich mir einen Instant - Cappucino und tauche Schokoladenkekse hinein. Es gibt nichts besseres. Dann nehme ich beides mit raus in den Innenhof des Compounds und telefoniere erstmal schön ausgiebig mit meiner Mutter. A kommt vom spielen mit anderen Kindern zurück, entdeckt mich und freut sich. Er klettert auf meinen Schoß, während ich noch telefoniere, und schläft dann innerhalb von 10 Minuten ein. 
Der Tag war so simpel, es ist nichts bahnbrechendes passiert, trotzdem war er einer der glücklichsten, die ich seit langer Zeit hatte.


Fast alle Tage, die ich in den Büros von L.S. und Uncle Be (in meiner Projektstelle, der Hands on Care Klinik) verbringen durfte. Sie waren großartige Lehrer und eine wahnsinnige Inspiration für mich. Jeden Morgen wurde ich mit einem breiten Lächeln begrüßt, es gab keinen Moment, in dem ich mich unwohl gefühlt hätte. Der Umgang war einfach so wertschätzend und liebevoll. Obwohl beide schon lange in dem Beruf arbeiten und viel mehr Praxiserfahrung haben als ich, bezogen sie mich ständig in alles mit ein, ließen mich Rezept – Zettel ausfüllen und mit Patienten sprechen (vorausgesetzt, diese sprachen gut genug Englisch). Es war nie schlimm, wenn mir mal ein Fehler passierte, und beide ließen sich für alles genau die richtige Menge an Zeit. Wenn ein Patient seine Beschwerden vortrug, schauten sie mich oft an und fragten: „Was würdest du jetzt verschreiben, Jalika?“ Das machte mich sehr stolz und glücklich.
An einem Tag kam ein älterer Mann in das Büro von L.S., eigentlich nur, um seinen Nachschub an HIV – Medikamenten abzuholen. Aber er wirkte zutiefst aufgewühlt, und als L.S. seine Laborwerte las, erklärte er dem Patienten, dass seine Werte sich im Gegensatz zum letzten Mal wieder verschlechtert hatten. 
„Das ist der Stress“ sagte L.S. zum Patienten. „Sie müssen aufhören, sich selbst solchen Stress zuzufügen. Sie machen alles nur schlimmer.“ Der Patient, nennen wir ihn P, sah aus, als würde er am liebsten in Tränen ausbrechen. Er berichtete, seine Frau würde ihn jeden Tag um Geld bitten und hätte am Abend schon alles wieder ausgegeben und machte ihm allgemein nur noch Vorwürfe, da sie der Meinung war, P habe sie damals vorsätzlich mit HIV angesteckt. Außerdem würde ihm seinen Sohn vorenthalten – dieser lebte seit geraumer Zeit bei ihren Eltern, und P hatte ihn seit Wochen nicht sehen können.
Ich habe Human Rights studiert. Ich würde niemanden vorsätzlich anstecken, ich habe damals nichts von meiner Diagnose gewusst. Ich versuche alles, um sie zufrieden zu stellen, gebe ihr permanent so viel Geld, dass am Ende des Tages nicht einmal etwas für mich übrig bleibt. Aber egal, was ich tue, es reicht ihr trotzdem nie“ sagte P mit zittriger Stimme. L.S. schnalzte missbilligend mit der Zunge. Ich versuchte eine etwas andere Schiene.
Können Sie ihrer Frau nicht sagen, wie verletzend sie ihr Verhalten empfinden? Sich mal richtig mit ihr aussprechen?“ Ich legte alle Empathie und Wärme in meine Stimme, so, wie ich auch in Deutschland mit Patienten und Angehörigen redete. „Alle ihre Gefühle sind valide, sie haben jedes Recht, so zu empfinden. An ihrer Stelle würde es mir genauso gehen. Ich glaube ihnen, dass sie niemanden mit Absicht anstecken wollten, das ist auch eine schwere Anschuldigung. Was passiert ist, ist nicht ihre Schuld. Sie wussten es nicht, sie konnten es nicht wissen. Vielleicht hatte sie den Virus auch zuerst. Das kann man nie mit Sicherheit sagen.“ Ich redete eine Weile so weiter, bis P nicht mehr so aussah, als würde er weinen wollen. 
L.S. betrachtete mich interessiert von der Seite aus, unterbrach mich aber nicht. Dafür war ich sehr dankbar. Am Ende des Gesprächs sagte P, er werde versuchen, ein klärendes Gespräch mit seiner Frau zu führen, auch wenn er nicht viel Hoffnung hat, dass es etwas bringt. Sein Gesicht wirkte etwas gelöster, und er bedankte sich bei uns. Nachdem er das Büro eigentlich schon verlassen hatte, kam er nach ein paar Minuten doch noch einmal zur Tür rein und schaute mich an. Versuchte ein Lächeln. „Danke Ihnen vielmals. Gott segne Sie, wirklich. Ich bete heute für Sie. Sie haben mir sehr geholfen.“
Wirklich gerne“ antwortete ich und meine es genau so. 
L.S. schaute mich an, etwas belustigt, aber sehr nett. „Aha, so führt ihr in Europa also die Beratungsgespräche. Das ist aber sehr interessant.“


Wir Freiwilligen haben für einige Tage ein Zwischenseminar im Ort Kartong. Es wird von zwei ehemaligen Freiwilligen geleitet, G und L, die vor ein paar Jahren auch in Gambia ihren Dienst gemacht haben. Außerdem treffen wir auch auf andere Freiwillige aus dem Senegal, und der Austausch ist total interessant und bereichernd. Ich, A und T teilen uns eine Hütte in der Lodge, und es weckt für mich schöne Erinnerungen an das Vorbereitungsseminar in Leipzig, wo wir uns schon eine Wohnung geteilt haben.
Dieses Seminar ist für mich sehr hilfreich und heilsam. Die Lodge liegt in einer wunderschönen Natur mit angrenzendem Strand, es gibt drei Mal täglich leckeres Essen und wir machen viele Einheiten zur Selbstreflektion der letzten Monate. Manchmal ist das anstrengend, manchmal auch richtig unangenehm, aber ich merke, wie wichtig es ist, mich mit bestimmten Dingen wieder auseinander zu setzen. Der Stress der letzten Wochen fällt etwas von mir ab. Wir führen Einzelgespräche mit G und L, und ich spreche zum ersten Mal auch über die Dinge, die mir sehr zusetzen, zum Beispiel die fehlende Privatsphäre und der fordernde Umgang in meinem Compound, sowie der Druck von allen Seiten, doch bitte schneller Mandinka zu lernen. G und L sind lieb und verständnisvoll und wir arbeiten gemeinsam an einem Plan, wie man einige Probleme in Angriff nehmen könnte. Danach fühle ich mich erleichtert und ernst genommen. Das ist so viel wert. Ich gehe mit einem sehr guten Gefühl und vielen neuen Zielen an mich selbst wieder aus dem Seminar nach Hause.


Uncle S (unser Chef im Registration Office in der Hands on Care Klinik) kommt nach 4 Wochen aus seinem jährlichen Urlaub zurück und läuft auf dem Gelände herum, um alle wiederzusehen und zu begrüßen. Wir freuen uns alle, dass er wieder da ist. Ich eingeschlossen. Uncle S macht mir so wahnsinnig gute Laune. Er hat eine so ausdrucksstarke Persönlichkeit, ich finde immer, wenn er nicht Sozialarbeiter wäre, könnte er auch Schauspieler sein. Wenn er redet, untermalt er das Gesagte immer mit zahlreichen Gesichtsausdrücken und großen Gesten, und wenn etwas besonders aufregend oder wichtig ist, schnellt seine Stimme immer mehrere Oktaven in die Höhe. Das Schöne an ihm ist, dass er jeden Tag mit neuer Begeisterung zu durchlaufen scheint. Wie als wäre jeder neuer Tag ein großes glänzendes Geschenk, dass er immer wieder auspacken dürfte. Es ist so ansteckend, und seine Abwesenheit war deutlich zu spüren. Als Uncle S an dem Office angekommen ist, in dem ich gerade arbeite, steckt er den Kopf hinein.
Da ist ja meine Jalika“ sagt er freudestrahlend und schlägt ein, wobei er mir fast die Hand zerquetscht, wie immer. Aber es gehört inzwischen zu unserer Begrüßung dazu wie alles andere.
S!“ antworte ich glücklich. „Jetzt sind wir wieder vollständig.“


Es ist 2 Uhr nachts, in Gunjur, auf dem Vereinsgrundstück. E und ich sitzen seit einer Weile draußen am Lagerfeuer, er kocht Ataya für uns und wir quatschen über alles mögliche. Ein Freund von E sitzt auch dabei, lächelt ab und zu zu mir herüber und sorgt dafür, dass das Feuer nicht ausgeht.
Das Koffein und der Zucker im Tee hält uns alle wach. E erzählt Geschichten über seine Schulzeit. Ich staune wieder mal, wie unterschiedlich wir aufgewachsen sind, und nicht nur im positiven Sinne. Als E noch zur Schule ging, war Gewalt noch an der Tagesordnung, selbst bis zur zwölften Klasse. Manchmal werde ich wahnsinnig wütend, stellvertretend für E, wenn ich so zuhöre. E neben mir hebt die Schultern. Ihn berührt das alles nicht mehr, oder er zeigt es nicht. „So war das hier halt, Jalika. Wir kennen das nicht anders. Ist jetzt sowieso alles Vergangenheit.“
Plötzlich hält ein großer LKW neben dem Grundstück. E‘s Freund läuft herüber, um dem Fahrer ein Gläschen Ataya zu bringen.
Das sind Freunde von mir, die holen nachts immer Sand von dem Land, das meinem Vater gehört. Mit dem Sand wollen sie später Backsteine produzieren“ erklärt E. Er grinst mich an. „Sollen wir mal mitfahren?"
Unbedingt.“ Wir klettern in den überdimensionalen LKW und fahren los. Die Straße ist übersät mit Schlaglöchern, und es fühlt sich ein bisschen an wie Achterbahn fahren. Wir erreichen nach ein paar holprigen Minuten das Land, und vor uns tut sich ein Gewässer auf.
Aber da können wir doch nicht durch fahren?“ frage ich besorgt.
Klar fahren wir da durch“ antwortet der Fahrer und gibt Gas. Ich starre mit offenem Mund aus dem Fenster, rechne halb damit, dass wir jeden Moment stecken bleiben oder zur Seite umfallen, aber wir durchqueren das Wasser ohne Probleme. An manchen Stellen war es richtig tief. Ich bin extrem beeindruckt.
Wir kommen an der Stelle an, wo der gewünschte Sand liegt, und steigen aus.
So! Jetzt könnt ihr euch ein bisschen die Zeit vertreiben“ sagt der Fahrer gut gelaunt. Er und seine Mitarbeiter, die schon auf ihn gewartet haben, fangen an, Sand in die Ladefläche des LKW‘s zu schaufeln. E greift nach meiner Hand. „Komm, wir gehen zum Strand, vielleicht finden wir Fische, die wir morgen essen können.“
Der Strand liegt nur ein paar Gehminuten entfernt. Wir schalten unsere Taschenlampen ein und spazieren eine Weile herum, aber wir sehen keine Fische oder anderen Meeresfrüchte. Manchmal hat man Glück, manchmal nicht. Also suchen wir uns eine windstille Ecke im Sand, schauen aufs Meer und unterhalten uns. Es ist eine wahnsinnig schöne Nacht. Der Mond ist so hell, dass er den ganzen Strand beleuchtet, und der Himmel ist von lauter kleinen Wolken durchzogen, durch die man den schwarzen Nachthimmel sieht. Es wirkt ein bisschen, als sei der Himmel eine gefleckte Kuh. Ganz hinten auf dem Meer sieht man die Fischerboote mit ihren weißen und grünen Lichtern (die Lichter locken Fische und Tintenfische an) und ab und zu kreischt entfernt eine Möwe. Die Atmosphäre ist irgendwie magisch. Perfekt, um über Gott zu sprechen. E erzählt mir alles mögliche über den Islam, und ich stelle viele Fragen. Je mehr Zeit ich in Gambia verbringe, umso mehr interessiert mich die Religion. Irgendwann schauen wir auf die Uhr. Zeit, zurück zum LKW zu gehen. Mir kam es vor wie ein paar Minuten. 
Es ist inzwischen schon nach Vier Uhr morgens, und langsam merke ich die Müdigkeit. Gleichzeitig bin ich noch voller Adrenalin. Wir kommen jedenfalls sicher wieder am Grundstück an, und verabschieden uns, E will beten gehen und ich ins Bett. Ich putze Zähne und schleiche in das Zimmer, dass ich mir mit Ava teile, aber sie wird trotzdem wach. „Wie spät ist es?“
Gerade 6 vorbei.“
Ernsthaft? Wo kommst du denn jetzt her?“
Ich lächele in mich hinein. „Wir haben einen kleinen Ausflug gemacht. Erzähle ich dir morgen.“


Ich und B haben einen unserer Tagesausflüge gemacht. Heute haben wir uns das Art Village* in Tujereng angeschaut. Es war eine tolle Erfahrung. Ich merke, wie sehr es mir fehlt, mit meinem Vater Kunst anzuschauen, das war in Deutschland für uns schon eine Art Tradition. „Ich hoffe, es nervt dich nicht, mit mir immer so Touristen – Sachen machen zu müssen“ sage ich auf dem Rückweg zu B.
B lächelt sein typisch stilles Lächeln. „Quatsch. Das ist für mich auch total spannend, ich sehe lauter Dinge, die ich vorher noch nicht kannte.“
Wir sind inzwischen zusammen. Ich bin glücklich. Dadurch, dass wir 3 Monate lang beste Freunde waren, haben wir ein ganz anderes Fundament, und ich merke, wie sehr sich das von allen Dating – Erfahrungen unterscheidet, die ich je gemacht habe. B wird in den nächsten Tagen für 2 Wochen in den Senegal fahren, um dort Urlaub zu machen, und ich vermisse ihn jetzt schon. Deswegen fahren wir jetzt nochmal zusammen in sein Dorf, um gemeinsam mit seiner Familie Iftar* zu halten. Ich verstehe mich gut mit B‘s Familie. Sie sind freundliche und ehrliche Menschen und haben mich herzlich empfangen. „Meine Mutter hat zu mir gesagt, sie ist stolz auf mich, weil ich mich in dich verliebt habe“ erzählt mir B vor ein paar Wochen. „Sie sagt, du bist eine wunderschöne Frau, und sie schätzt dich sehr. Sie sagt, dass man dir ansehen kann, dass du die Menschheit verstehst.“ Als ich das gehört hatte, war ich einen Moment sprachlos vor Rührung.
Heute ist ein besonderer Tag, denn alle Geschwister von B (es sind insgesamt neben B noch sechs) sind heute für das Iftar nach Hause gekommen. Das passiert sehr selten, da zwei von ihnen schon eine eigene Familie haben und woanders leben. B ist glücklich über diese Umstände. „Alle Menschen, die ich liebe, an einem Ort.“ 
Um 19.30 Uhr, der üblichen Zeit, setzen wir uns alle auf den großen Gebetsteppich im Innenhof des Compounds und essen zusammen. B‘s Mutter ist eine großartige Köchin, und wie beim letzten Mal schmeckt alles köstlich. Es gibt Huhn mit verschiedenen Salaten, Zwiebelsauce, Spagetti und Gemüse, und zum Nachtisch Obstsalat mit Vanillesauce. Ich esse, bis ich so voll bin, dass ich mich kaum bewegen kann. Erst dann ist B‘s Mutter zufrieden.
Später sitze ich neben B auf einem Stuhl und trinke den typischen Ramadan – Tee, der hier abends immer serviert wird, beobachte das Treiben von B‘s großer Familie (die ja jetzt auch meine ist) um mich herum und genieße alles einfach nur. Ich muss B nicht großartig erklären, was in mir vorgeht, ich weiß, dass er genauso empfindet wie ich, dass er versteht. Dieser Abend war eines meiner absoluten Highlights. Ich will gar nicht gehen, und ziehe den Abschied in die Länge, so weit es geht. B bringt mich bis zur Hauptstraße, ein befreundeter Taxifahrer holt mich ab, da man um diese Uhrzeit sehr schwer ein Bustaxi bekommt, und fährt mich zurück. Und ich denke wieder, was ich für ein Glück mit allem habe.


Meine Familie kommt mich nach langer Planung und Vorfreude in Gambia besuchen. (Meine Mutter, eine Freundin meiner Mutter und mein Bruder.) Wir leben zusammen in einer Lodge in Gunjur, machen viele Ausflüge und genießen das lokale Essen. Für mich ist der schönste Tag der, an dem wir zusammen nach Brikama fahren. Ich zeige meiner Mutter und meinem Bruder meinen Arbeitsplatz, das Krankenhaus, und sie werden von meinen Mitarbeitern ausgiebig begrüßt. Danach laufen wir über die Hauptstraße zu meinem Compound, damit meine gambische Familie sie auch endlich persönlich kennenlernt. Ich merke, dass meine Familie ab irgendeinem Punkt total reizüberflutet von der Anzahl an neuen Menschen in Kombination mit der Hitze ist, aber sie halten sich sehr tapfer. Ich bin stolz auf sie. Auch, dass sie sich auf so eine Erfahrung mit diesem Land so einlassen, weiß ich sehr zu schätzen. Ich bin ja inzwischen an alles gewöhnt, aber für meine Familie sind es unzählige neue Eindrücke und zum Teil auch Kulturschocks. Ich denke in diesen Tagen viel zurück an die Zeit, als ich hier gerade frisch angekommen war.
Meine Mutter hat einen riesigen Koffer voll mit Materialien aus Deutschland mitgebracht, welche das Krankenhaus benötigen könnte. Dafür hat sie in verschiedenen Apotheken sowie in ihrer Hausarztpraxis gesammelt. An einem Tag packe ich den Koffer zusammen mit meinen Kollegen aus, und die Stimmung könnte besser nicht sein. Ich bin genauso beeindruckt vom Einsatz meiner Mutter wie meine Kollegen, und freue mich so sehr, dass sie mein Projekt in diesem Land unterstützt und sich so engagiert.
Der Abschied von meiner Familie nach 9 gemeinsamen Tagen fällt mir schwer. Aber ich bin dankbar für die schöne, unvergessliche Zeit, die wir gemeinsam hier verbringen konnten.


Nachtrag: ich hätte nie gedacht, dass mich dieser Beitrag so viel Zeit kosten würde. Ich habe ihn mehrfach überarbeitet. Beim Schreiben sind mir immer noch mehr schöne und glückliche Momente eingefallen, die ich hinzufügen wollte. Das zeigt mir, wie gut es war, damit anzufangen. Ich habe mir vorgenommen, nach 6 Monaten wieder so eine Bestandsaufnahme zu schreiben, und dann nochmal nach 9. Momentan denke ich sogar ernsthaft darüber nach, meinen Aufenthalt hier noch einmal für 6 weitere Monate zu verlängern, wenn die reguläre Zeit um ist. Und ich denke, ich werde mich bald informieren, was ich dafür tun müsste bzw. wo ich den Antrag diesbezüglich stellen kann. 
Während ich das hier schreibe, habe ich noch Ferien. Ich sitze in der Hands on Care Klinik im Office von L.S., der bereits nach Hause gegangen ist und mir seinen Schreibtisch zur Verfügung gestellt hat, und meine Mitarbeiter schauen alle nacheinander abwechselnd zu mir rein und möchten gern wissen, wie es mir und meiner Familie geht und wie der gemeinsame Urlaub war. Außerdem halten sie mich über alles auf dem laufenden, was hier in der Zwischenzeit passiert ist. 
Meine Familie ist gestern Abend abgereist, B ist in seinem Urlaub im Senegal, und ich bin zurück in Brikama. Ich vermisse meine Familie und meinen Freund sehr, aber es ist auch schön, wieder in meinem Compound zu sein. Und am meisten freue ich mich darüber, meinen kleinen A wiederzusehen. Dieser war gestern auch ganz aus dem Häuschen, dass ich wieder da bin. Morgen schaue ich mir mit meiner gambischen Freundin Fatou Jobe eine Moschee an und danach gehen wir Schuhe shoppen, und am Samstag fahre ich mit A und meinem befreundeten Taxi - Fahrer nach Senegambia, um Eis essen zu gehen. 
Ich freue mich auf alles, das kommt. 

*Naming Ceremony: meist eine Woche, nachdem ein Baby hier geboren wurde, bekommt es seinen Namen. Dann gibt es dem neuen Namen zu Ehren ein großes Fest. Die Frauen ziehen ihre schönsten Kleider an und tragen viel Make - Up auf, und die Gäste erscheinen zahlreich. Es wird meist getrommelt, gesungen und getanzt. Meistens gibt es ein traditionelles Gericht aus Reis, Fleisch und Zwiebelsauce, außerdem verschiedene, meist selbstgemachte Säfte. Am Ende werden meistens noch professionelle Fotos von den Eltern mit Baby gemacht. 

*Lodge: Anlage mit Ferienhäusern, Feriendorf, meist mit integriertem Restaurant, hier oft in der Natur und in Strandnähe gelegen 

*Art Village: ein Grundstück in Tujereng, in dem man sich Bilder, aber vor allem sehr viel Upcycling - Kunst anschauen kann. Überall an den Bäumen hängt irgendwelcher zu Kunst transformierter Müll, und es gibt sehr viele Statuen sowie Skulpturen. Man kann dort auch übernachten. Sehr sehr empfehlenswert. 

*Iftar: das festliche Abendessen, mit dem jeden Tag im Monat des Ramadan nach Sonnenuntergang das Fasten gebrochen wird. 
Die Frauen bereiten hier jeden Tag köstliche, aufwendige Gerichte zu, und die ganze Familie versammelt sich. 

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Know your status, Teil I

Glückliche und unglückliche Zwischenfälle

Welcome to The Gambia