Backway, Teil II
Das ist die Geschichte von S, 27
Es gab viele Gründe, warum ich damals diese Entscheidung getroffen habe.
Damals, als ich zur Schule ging, habe ich an den Wochenenden verschiedene Jobs gemacht, um mir die Schulmaterialien leisten zu können. Bücher, Uniformen, Schultaschen oder Essen für die Pause. Ich habe damit ab der 9. Klasse angefangen. Ich wollte meine Eltern entlasten, die meistens gerade so die Schulgebühren für mich und meine Geschwister aufbringen konnten. Ich hatte damals auch selbst das Konzept, dass sie nicht die Einzigen sein sollten, die für alles bezahlen.
In meinen Nebenjobs habe ich meistens auf Baustellen ausgeholfen. Dort habe ich dann einen Mann kennengelernt, der eine Art Bauunternehmer war. Für ihn habe ich 2 Jahre lang gearbeitet.
Mein Boss sagte mir irgendwann, er könne sehen, wie hart ich arbeite. Ich hätte für ihn sehr viel Potenzial. Und wenn ich die Schule erfolgreich abgeschlossen hätte, würde er sich bereit erklären, meine Ausbildung an der technischen Schule zu bezahlen. Dann könne ich weiter für sein Unternehmen arbeiten, aber als richtiger Fachangestellter. Er wolle mein Sponsor sein. Ich war natürlich wahnsinnig glücklich über diese Chance.
Ich machte also meinen Schulabschluss, zu der Zeit war ich 21 Jahre alt. Mein Boss sagte mir, sobald das Bewerbungsformular für die Berufsschule verfügbar sei, würde er das für mich ausfüllen und abschicken.
Kurz vor Bewerbungsschluss fuhr dieser Mann für einen Job auf einer neuen Baustelle in ein Dorf. Dort hatte er einen schweren Unfall. Er fiel in eine (Bau -) Grube und brach sich beide Beine.
Danach war mir klar, dass er nicht mehr in der Position war, mir zu helfen. Ich konnte ja schlecht an sein Krankenbett gehen und sagen: Und, wann werden sie nun für meine Ausbildung bezahlen?
Er hatte ganz andere Problem. Das hätte ich mich nie getraut. Im Nachhinein weiß ich nicht mal, ob er in der Lage war, seine Behandlung zu bezahlen.
Ich wusste, dass dieses Projekt nun gescheitert war. Ich war wahnsinnig frustriert, denn ich hatte geglaubt, dass sich mit der Hilfe des Mannes mein Leben endlich zum Positiven wenden würde.
In den Jahren 2015 und 2016 gab es so viele Menschen, die ich kannte, die die Immigration nach Europa versuchten. Ich bekam das zum ersten Mal richtig mit. Manche hatten Erfolg. Viele starben aber auch bei dem Versuch.
Ich hatte trotzdem das Gefühl, es auch probieren zu müssen, aufgrund all dieser Umstände. Ich hatte keinen Job. Studieren war auch finanziell ausgeschlossen. Ich saß jeden Tag nur zuhause.
Es gab keine neuen Möglichkeiten und keinen neuen Plan für mich. Das konnte nicht so weitergehen. Also beschloss ich, mein Zuhause zu verlassen. Da war ich immer noch 21 Jahre alt. Ich habe niemandem davon erzählt und mich auch nicht verabschiedet. Irgendwann, als ich schon eine große Strecke zurückgelegt hatte, rief ich dann doch meinen Vater an. Meine Eltern hatten nie gewollt, dass ich so etwas tue. Mein Vater sagte auch gleich: Oh nein, S, was hast du getan? Komm zurück.
Aber ich musste das tun. Ich konnte nicht mehr umkehren. Von Gambia ging es in den Senegal und vom Senegal nach Mauretanien.
Hier in Gambia hatte ich einen Freund gehabt, der einen Verwandten in Mauretanien hatte. Nennen wir ihn H. Bei H sollte ich fürs Erste unterkommen, und mein Freund gab mir seine Kontaktdaten. Als ich dort ankam, nahm H mich auf und vermietete mir ein Zimmer in seinem Compound.
Ich sollte auch für H arbeiten. Sein Job war es, am Hafen den Fischern beim Tragen ihrer Materialien zu helfen. Das war aber nicht besonders lukrativ und an manchen Tagen konnte man überhaupt nichts verdienen, also wechselte ich wieder in die Bauarbeit. Das war der Zweitjob von H. Die Atmosphäre dort war nicht gut. H nutzte meine Anwesenheit aus, indem er mir alle unliebsamen Aufgaben zuteilte, die er selbst nicht machen wollte, und zuhause, wo er ja mein Vermieter war, war es auch nicht besser. Er behandelte mich wie ein Kind, kommandierte mich herum und weckte mich auch manchmal einfach mitten in der Nacht, damit ich irgendetwas für ihn erledigte. Ich hatte das Gefühl, er machte es sich zum Vorteil, dass ich in diesem Land niemanden außer ihm kannte und auf ihn angewiesen war. Und dass er fand, ich würde für immer in seiner Schuld stehen, weil er mich aufgenommen und mir einen Job gegeben hatte.
Zu diesem Zeitpunkt schickte ich bereits regelmäßig Geld nach Hause. Das war nicht mein ursprünglicher Plan. Eigentlich wollte ich so lange etwas ansparen, bis ich genug zusammenhatte, um den restlichen Weg nach Europa auf mich nehmen zu können. Aber das funktionierte nicht. Ich musste die Miete und meine Verpflegung bezahlen, und unerwartete Dinge passierten auch. Ich wurde beispielsweise krank – meine Hand fing an, wahnsinnig weh zu tun, und ich konnte sie für drei Wochen nicht bewegen. In diesem Zeitraum konnte ich nicht arbeiten und überhaupt kein Geld machen. Ich musste in dieser Zeit mein angespartes Geld verwenden. Irgendwann hörte der Schmerz von selbst auf, aber ich hatte überhaupt kein Geld mehr, nicht mal für Essen. Ich hatte mich zum Glück mit einem Mann angefreundet, der einen Videoclub besaß. Manchmal ging ich nach der Arbeit dort hin, um mir Fußballspiele anzuschauen. Ich liebe Fußball so sehr. Dieser Mann war gut zu mir und lieh mir Geld aus, damit ich mir etwas zu Essen kaufen konnte. Ohne ihn hätte meine Situation schlecht ausgesehen.
Dann stahl einer meiner Mitbewohner aus dem Compound mein Handy, meine einzige Verbindung zu meinem Leben in meiner Heimat. Ich musste ein neues besorgen, damit meine Familie wenigstens wissen konnte, dass ich noch am Leben war.
Zwischendurch kam Zuhause in Gambia mein letzter kleiner Bruder zur Welt. Nach der Geburt war er sehr unterernährt und verbrachte über einen Monat in einer pädiatrischen Station. All das kostete natürlich Geld. Ich musste meine Familie aus der Ferne unterstützen.
Ich kam nicht voran. Teilweise arbeitete ich zwei Monate durch, ohne einen einzigen Tag frei zu haben, aber ich konnte keine große Summe ansparen. Manche Menschen schaffen es schneller nach Europa, weil sie in der Heimat Familienmitglieder oder Freunde haben, die in die Backway – Reise investieren, die Geld schicken, damit man weiter reisen kann. Aber das war bei mir nicht der Fall.
Irgendwann kam ein Senegalese zu mir und überzeugte mich, es mit fischen zu probieren. Er sagte, man könne dort viel mehr Geld machen als in Bauarbeit. Erst wollte ich das nicht machen, weil es ein gefährlicher Job ist. Ich suchte Rat bei meinem Freund aus dem Videoclub. Er sagte zu mir: Du bist ein Mann. Du kannst es dir nicht leisten, Jobs abzulehnen, deshalb bist du doch hergekommen. Besser, du machst es.
Es war ein riskanter Job. Wir befanden uns noch in Westafrika, aber Nordafrika war nicht mehr weit weg. Und in diesem Bereich ist das Wetter unberechenbar. Es ist sehr windig und es gab oft Unwetter, Stürme. Ab und zu fuhren wir 100 bis 200 Kilometer weit raus, um zu fischen, um besondere Fische zu fangen. Dann waren wir 3 bis 4 Tage auf See, mit einem kleinen Boot. Und manchmal gab der Motor dann den Geist auf, oder jemand hatte sich mit der Menge an Benzin verkalkuliert und wir hatten plötzlich keins mehr, wenn wir uns noch mitten im Meer befanden. Dann mussten wir uns hinsetzen und konnten nur beten, dass jemand uns finden würde und wir nicht hier draußen sterben müssten. Gott sei Dank war das dann immer der Fall, aber die Stunden des Wartens und der Ungewissheit waren so angsteinflößend.
An erfolgreichen Tagen konnte ich gutes Geld machen, wenn wir Glück hatten und viel gefangen hatten. Aber ich erlebte auch, dass immer wieder Fischerboote auf offener See verschwanden und nie wieder gefunden wurden. In den Fällen, in denen man die Boote irgendwann entdeckte, waren alle Mitarbeiter darin gestorben. Manchmal saß ich da und fragte mich selbst, warum ich täglich mein Leben für diesen Job riskierte. Es war alles so schrecklich. Meine Familie zuhause wusste auch nicht, dass ich mein Geld mit Fischen verdiente. Es wäre zu schwer für sie gewesen, mit diesem Wissen zu leben. Nur einmal erzählte ich meinem Vater davon, und er sagte sofort, ich solle damit aufhören, es wäre viel zu riskant. Ich versuchte als nächstes, weiter nach Marokko zu reisen, denn von Marokko ist es nicht mehr weit bis nach Europa. Ich dachte, ich könnte dort vielleicht auch fischen, denn inzwischen hatte ich Erfahrung gesammelt. So lange, bis ich genug Geld zusammen hätte, um von Marokko über das Meer den relativ kurzen Weg nach Spanien zu nehmen.
Aber das Problem war, dass es damals in Marokko ein komplettes Verbot für Ausländer gab, in der Fischer – Industrie zu arbeiten. Nur die marokkanischen Staatsbürger. Jeder aus einem anderen Teil von Afrika, der kam und das versuchen sollte, hätte sogar im Gefängnis landen können. Sie sagten, dass das ein generelles Problem sei, ständig kamen irgendwelche anderen Nationalitäten, die ihren Fisch stehlen wollten. Die Häfen dort wurden streng überwacht. Ich wusste, es machte keinen Sinn. Danach versuchte ich auch nicht mehr, einen anderen Job zu machen. Ich hatte generell Angst, von der Polizei deportiert zu werden, weil ich keine gültigen Dokumente für Marokko hatte. (Deportation läuft nicht immer gleich ab. S sagt dazu: „Oftmals sollst du einfach nur so schnell wie möglich das Land verlassen und wirst direkt an der Grenze zu einem anderen Land abgesetzt. Dort kann Wüste sein, dort kann freie Natur sein, ohne Verkehrsmittel. Du musst dann selbst zusehen, wie du zurück in dein Land kommst. Es interessiert die Polizei nicht, ob du das überlebst oder nicht.“)
Vor allem in Mauretanien erlebten wir auch viel Rassismus. Manchmal, wenn wir von der Arbeit nach Hause gingen, fuhren Weiße in ihren Autos vorbei und bewarfen uns mit Eiern. Das passiert dort ehrlich.
(Zum Verständnis: an der Stelle frage ich nach: „Wenn du von Weißen redest, meinst du aber in diesem Fall keine Europäer, oder?“
Und daraufhin sagt S: „Nein, andere Afrikaner. Unter uns gibt es auch Weiße. Die Araber.“
Gemeint sind an dieser Stelle nicht die Bürger der arabischen Emiraten, sondern jene ethnische Gruppe von Menschen, die arabisch als ihre erste Sprache verstehen, muslimischen Glaubens sind und gleichzeitig auch eine hellere Hautfarbe haben. Diese Gruppe findet man vor allem in Westasien, aber auch in vielen Ländern Nordafrikas. „Zum Beispiel Menschen in Mauretanien, Tunesien, Marokko. Sie sind weiß, aber sie sind Afrikaner. Sie nennen sich auch selbst Arabs. Viele von ihnen finden, dass sie aufgrund ihrer Hautfarbe einen anderen Stellenwert haben“ sagt S.)
Irgendwann sagte ich mir, ich hätte alles versucht, aber es wäre wohl das Beste, zurück nach Hause zu gehen und mein Leben dort wieder anzufangen. Damit ich die Chance hätte, vielleicht noch schöne Dinge zu erleben.
Also kehrte ich nach 3 Jahren dann wieder nach Gambia zurück.
Das ist die Geschichte von Abdourahman, 19
Als ich das erste Mal versuchte, Gambia zu verlassen, war ich 17 Jahre alt.
Mir wurde zu dieser Zeit zum ersten Mal richtig bewusst, dass meine Eltern große finanzielle Schwierigkeiten hatten. Ich sagte mir selbst, dass ich unter diesen Lebensumständen, die hier herrschten, nicht viel erreichen würde. Zu dieser Zeit hatte ich die Schule noch nicht abgeschlossen, aber ich konnte so viele junge Erwachsene beobachten, die gerade ihren Abschluss gemacht hatten und nicht arbeiteten. (Weil es keine Jobs gab.) Wenn mir das auch passierte, wie sollte ich dann meine Zukunft positiv gestalten? Also sagte ich mir, dass ich es auch mit dem Backway versuchen müsse. Ich müsste das alles auf mich nehmen, um zu versuchen, in Europa zu sein. Mit dem Konzept, dass ich, wenn ich erst einmal dort angekommen wäre, einen tollen Job finden würde, mit dem ich mir selbst und meiner Familie helfen könne.
Mein Vater war sein Leben lang Bäcker und Fleischer gewesen. Aber als ich 17 war, war er schon sehr alt, 78 Jahre alt, ich war sein letzter Sohn. Meine Mutter hatte nie eine richtige Schulbildung. Nach den ersten paar Jahren der Grundschule holte der Vater sie zurück nach Hause. Damals hatten ihre Eltern das Konzept, dass eine Frau nicht lernen sollte. Sie war die erste Tochter der Familie und sollte bei der lokalen Farmarbeit helfen.
Ich machte mich auf den Weg, ohne mich zu verabschieden. Das war meine eigene Idee, meine Eltern haben mich nie ermutigt, das zu tun. Wenn ich ihnen gesagt hätte, was ich vorhatte, hätten sie es mir nie erlaubt.
Später, nachdem das alles passiert war, (als ich schon wieder in Gambia war), hörte ich von jemandem, dass mein Vater versucht hatte, mich anzurufen, als er herausgefunden hatte, dass ich unterwegs war. Als er mich auf dem Handy nicht erreichen konnte, weinte er. Er hätte das nie gewollt. Ich weiß heute, dass er lieber in Armut gestorben wäre, als zu erleben, dass ich den Backway nehme.
Ich nahm zusammen mit anderen Männern den Bus. Über Gambia wollte ich in den Senegal, und von dort aus weiter. Als wir an der ersten Etappe ankamen, sah ich, dass die Grenze zum Senegal verschlossen war. Es war 4 Uhr morgens, also verließen wir den Bus und legten uns auf der Straße schlafen. Nach zwei Stunden gingen wir zum Grenzhäuschen und bezahlten die Gebühren. Um 8 Uhr morgens öffnete dann die Grenze. Wir fuhren in den Senegal und weniger später gab es eine weitere Grenze. Dort stiegen wir aus und frühstückten. Danach ging es weiter. Ich weiß noch, dass wir von 9 bis 15 Uhr durchfuhren. Dann kam der Aprantice zu mir.
(Aprantice: derjenige, der in öffentlichen Autos und Bussen immer dafür sorgt, dass alle Fahrgäste das Fahrtgeld bezahlen. Außerdem ist er für das Platzieren der Menschen verantwortlich, also, wer spät aussteigt, sitzt weiter hinten, wer an jenem Ort aussteigt aussteigt, sitzt an dieser Stelle, und so weiter, damit alles möglichst reibungslos abläuft. Und er soll den Fahrer immer bestmöglichst unterstützen. Manchmal muss er auch aussteigen und Wasser oder einen Snack kaufen. Ich weiß eigentlich bis heute nicht, warum diese Position „Aprantice“ genannt wird. Ich glaube, es ist eine Abwandlung von „Apprentice“, was ja auf englisch „Auszubildender“ heißt. Es wird aber immer Aprantice ausgesprochen. Ich glaube, der Name kommt daher, weil die Aprantice‘s immer auch die Möglichkeit haben, vom Fahrer das Fahren zu lernen, wenn sie lange genug bei ihm aushelfen. Aber dafür lege ich nicht meine Hand ins Feuer. Es sind übrigens nie Frauen, immer nur Männer.)
Der Aprantice sagte, es müsse jetzt wieder eine Gebühr bezahlt werden. Und diejenigen, die keinen Reisepass mitgebracht hatten, sondern nur einen Personalausweis, sollten mehr bezahlen. Ich hatte aber nichts von beidem. Damals lebte ich noch nicht in Brikama, sondern in einem kleinen abgelegenen Dorf und hatte keine Ahnung, wie man sich Ausweisdokumente beschaffen konnte. Also musste ich viel zahlen. Außerdem musste ich an jedem Kontrollpunkt im Senegal aussteigen und erklären, warum ich kein offizielles Dokument hatte. Wenn sie mich fragten, sagte ich natürlich nicht, was ich wirklich vorhatte, sondern, dass ich auf dem Weg war, um Urlaub bei Verwandten zu machen.
An der letzten Kontrolle, der Landesgrenze, passierte folgendes: ich hatte bereits mein ganzes Geld ausgegeben. Mir wurde gesagt, dass ich nicht weiterfahren könne, wenn ich die nächste Gebühr nicht zahlte. Aber das konnte ich nicht. Also eröffneten mir die Polizisten, dass sie mich in diesem Fall in Gewahrsam nehmen und am nächsten Morgen zurück nach Gambia senden würden.
Ich versuchte dem Boss der Grenzpolizei zu erklären, dass ich doch schon so viel Geld an den Kontrollpunkten gelassen hatte und jetzt schon fast in Mali angekommen sei (wo mein angeblicher Urlaub stattfinden sollte). Ob sie es mir nicht erlauben könnten, die Grenze zu überqueren, als Ausnahme? Aber der Officer fing an, mich zu beleidigen, und verbot mir, weiter mit ihm zu sprechen. Ich hätte kein Recht dazu.
Es waren noch drei andere Männer aus Guinea mit mir im Polizeistützpunkt, die in der gleichen Situation waren wie ich. Sie konnten auch nicht zahlen. Ich glaube, sie hatten den gleichen Plan gehabt wie ich, aber ich weiß es nicht sicher. Als diese Männer hörten, dass sie über Nacht ins Gefängnis kommen würden, fingen sie an zu weinen. Ich saß daneben und versuchte, mich zusammenzunehmen. Ich sah mich selbst nicht mehr als kleinen Jungen an, sondern als Mann, der mit einer Mission hergekommen war. Da wollte ich mich nicht so gehen lassen.
Aber ein, zwei Stunden vergingen, der Boss machte sich dann bereit, um nach Hause zu gehen, und der Mitarbeiter der Nachtschicht kam, um ihn abzulösen. Mir wurde bewusst, dass ich wirklich gleich in eine Zelle müsse. Da musste ich auch weinen. Ein bisschen.
Aber ich war auch schlau. Ich schaffte es tatsächlich, der Polizei zu entkommen, indem ich mich aus dem Gebäude schlich. Der Bus, mit dem ich gekommen war, war noch in der Nähe. Also schlich ich zurück zum Fahrer. „Schau, wir sind fast in Mali. In Mali habe ich dann wieder Geld, meine Verwandten werden dafür sorgen. Kannst du mir bitte helfen, der Grenzpolizei zu entkommen?“
Der Busfahrer überlegte. „Der einzige Weg, wie ich dich über die Grenze bringen kann, ist, wenn du dich als mein Aprantice oder Automechaniker ausgibst. Also zieh dir etwas anderes an und mach dich ein bisschen schmutzig, damit du heruntergekommen aussiehst und keiner dich mehr erkennt.“
Wir einigten uns also darauf, dass ich so tun sollte, als sei ich der Aprantice. (Der ursprüngliche Aprantice hatte Feierabend gemacht und war irgendwo anders hingegangen.)
Wir fuhren also weiter, ich setzte mich nicht hin, sondern stellte mich an den üblichen
Aprantice – Platz, nahm Wechselgeld in die Hand und versuchte, meine Rolle möglichst authentisch zu spielen. Es funktionierte, keiner erkannte mich mehr, und wir überquerten die Grenze. Sobald wir angekommen waren, musste ich so schnell wie möglich Land gewinnen. Ich konnte nicht das Risiko eingehen, doch noch erwischt zu werden.
Mein Vater hatte einen Onkel in Mali, er wohnte in der Hauptstadt, Bamaki. Zu dem ging ich und erklärte mein Vorhaben, den Backway fortzusetzen. „Nein, Abdou, du musst das nicht tun“ sagte mein Onkel besorgt. „Das ist nicht gut für dich. Kehr wieder um.“
Ich erklärte ihm all die Umstände in Gambia, die mich hierher geführt hatten. Am Ende sah er ein, wie entschlossen ich war, und willigte ein, mir zu helfen, die Reise fortzusetzen. Er gab mir etwas Geld. Ich verließ Bamako und reiste weiter. Irgendwann gelangte ich in ein Dorf. Dort traf ich auf Menschen des Volkes Tuareg.(Die Tuareg sind ein ursprünglich muslimisches Berbervolk mit nomadischer Tradition, mit rund 1,5 Millionen Mitgliedern. Sie leben in einer etwa 2 Millionen Quadratkilometer großen Region in der Sahara und im Sahel, die Teile Algeriens, Malis, Lybiens, Burkina Fasos und Nigers umfasst. Der Begriff Tuareg basiert auf dem arabischen „Tawariq“ und wird meinst als „die von Gott verlassenen“ übersetzt. In Nordmali und Südalgerien gibt es noch viele nomadisch lebende Tuareg. Wirtschaftlich ist ihre Situation problematisch. Früher bildeten der Transsaharahandel und die Viehzucht ihre Haupteinkommensquelle. Heute ist der Tourismus ein wichtiger Faktor, doch der ist seit 2012 fast zum Erliegen gekommen. Tuareg haben seit jeher mit Unterdrückung, Ausgrenzung und Verfolgung zu kämpfen gehabt. Inmitten des Volkes der Tuareg gibt es verschiedene Gruppierungen. Jene, die normal und friedlich ihr Leben leben und ihren Tätigkeiten nachgehen bis hin zu Rebellen, Drogen/Waffen/Menschenhändlern, Terroristen und Dschihadisten.)
Quellen: Bundesministerium der Verteidigung,
Konrad-Adenauer-Stiftung, Abdourahman)
Einige von ihnen sind sehr böse Menschen. Wenn sie ein Gebiet für sich eingenommen haben, herrscht dort Anarchie. Dort gelten nur ihre eigenen Gesetze.
Wenn man also weiter nach Niger will, muss man ein Stück durch die Wüste, wo man sie antrifft. Zu der Zeit war es nicht sicher, von Mali direkt nach Algerien zu reisen. Man nahm einen Umweg über Niger. Diese Tuaregs sind auch diejenigen, die einen mit dem Auto über die Grenze transportieren. Und wenn man Pech hat und kein Geld vorweisen kann, nehmen sie einen gefangen, tun einem Gewalt an und verlangen, dass man die eigenen Eltern im Heimatland anruft, damit diese Geld senden. Erst dann kommt man wieder frei. Man kann diesen Tuareg nur schwer entkommen, denn man muss immer durch ihr Gebiet durch. Ich habe von manchen gehört, die es an ihnen vorbei geschafft haben, aber ich weiß wirklich nicht, wie.
Ich musste also wieder bezahlen. Das tat ich, und wir setzten die Reise fort. Aber diese Schlepper haben ein komplexes System. Sie bringen einen nur bis an einen bestimmten Punkt und sprechen sich mit Kollegen ab, dann muss man das Fahrzeug wechseln, mit anderen Leuten weiterfahren. Das kann sich beliebig oft wiederholen. Immer muss man aufs neue Geld bezahlen, sonst wird man einfach zurückgelassen. Am Ende teilen sich alle das eingenommene Geld.
Ich kam nach Niger und von dort aus nach Algerien. Aber als ich dann dort war, beschloss ich, dass ich nach Hause zurück musste. Ich hatte kein Geld mehr und hatte zwischendurch schon mein Handy verkaufen müssen, um finanziell weiterzukommen. Ich konnte also meinen Onkel auch nicht mehr erreichen.
Wir waren eine Gruppe von Männern, die sich auf dem Weg zusammengefunden hatte, die alle beschlossen hatten, zurückzukehren. Also meldeten wir uns bei der nächsten Polizeiwache. Wenn man ohne gültiges Visum in Algerien ist, sich aber freiwillig stellt, kann man mit UN in Kontakt treten.
(UN: United Nations, auch UNO, United Nations Organization. Ein zwischenstaatlicher Zusammenschluss von 193 Staaten und als globale internationale Organisation ein uneingeschränkt anerkanntes Völkerrechtssubjekt. Hauptaufgaben: die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, die Entwicklung besserer, freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Nationen, die internationale Zusammenarbeit, Lösung globaler Probleme und Förderung der Menschenrechte und der Mittelpunkt zu sein, an dem die Nationen diese Ziele gemeinsam verhandeln. Quelle: Wikipedia.)
UN übernimmt dann die Verantwortung. Sie stellen einen Fahrer zur Verfügung, der einen sicher ins Heimatland zurückbringt, und sorgen für diesen Zeitraum der Rückreise auch für Verpflegung. Wenn man zurück ist, kann die UN einem mit einem Geldbetrag helfen, hier ein Business aufzubauen, damit man nicht noch einmal den Backway versuchen muss. (Das ist auch in der oben verlinkten Dokumentation zu sehen.) Einer meiner Jungs hatte das Glück, an diesem Programm teilzunehmen. Er hatte es damals bis nach Marokko geschafft. Von dort aus hatte er drei Mal versucht, übers Meer nach Spanien zu kommen, aber er hatte kein Glück. Weißt du, die Marrokaner...sie werden dich nicht dabei unterstützen, ihr Land zu verlassen, um nach Europa zu siedeln. Aus Rassismus. Da spielt die Hautfarbe wieder eine Rolle. Aber auch aus Neid. Nach dem Motto, wenn wir nicht nach Europa können, dann auch niemand anderer. Das ist jetzt meine eigene Meinung: die Marrokaner sehen sich nicht als Afrikaner, sondern als Europäer. Deswegen behandeln sie Mitbürger aus anderen Teilen Afrikas auch nicht wie ihresgleichen. Dabei sind sie genauso Afrikaner wie wir.
Mein Freund wurde jedes Mal von der marrokanischen Polizei festgenommen und kam dann temporär ins Gefängnis. Manche andere versuchen auch, von Lybien oder Tunesien aus das Meer nach Italien zu überqueren. Ich kenne drei entfernte Cousins, die das so geschafft haben.
Aber das Endziel ist immer Deutschland. Jeder, den ich kenne, will nach der Backway – Reise in Deutschland enden. Alle stellen sich vor, dass es dort wie im Paradies sein muss.
Meine Cousins sind momentan in einem Flüchtlingscamp. Sie werden nicht deportiert, aber kommen auch noch nicht raus. Ich weiß nicht, was mit ihnen passieren wird.
Als ich das zweite Mal versuchte zu flüchten, war die Reise nur sehr kurz. Ich erreichte Mali und stoppte dort, um meinen Onkel wiederzutreffen. Er sagte zu mir: „Als du letztes Mal unterwegs warst, haben wir unser ganzes Geld verloren. Ich habe hier ein Business (einen Großhandel). Bleib hier und arbeite für mich.“ Das tat ich dann für eine Weile, denn ich wollte meine Familie in Gambia nach wie vor unterstützen. Irgendwann kam ein sehr gebildeter Mann in den Laden. Er war ein regelmäßiger Kunde. Wir kamen ins Gespräch. Dieser Mann sagte irgendwann zu meinem Onkel: „Es ist eine Verschwendung des Potenzials dieses Jungen, dass er hier arbeitet. Er muss zurück zur Schule gehen und einen richtigen Abschluss machen. Du solltest ihn dabei unterstützen.“
Mein Onkel sah ein, dass der Mann Recht hatte. Aber Mali ist ein frankophones Land. Ich sprach nicht gut französisch und hätte in der lokalen Schule Schwierigkeiten gehabt. Zu dem Zeitpunkt sollte ich zurück in die 11. Klasse gehen. Also sagte mein Onkel zu mir: „Mach dir keine Sorgen. Geh zurück nach Gambia und fang dort wieder neu an. Ich werde euch finanziell unterstützen, und du kannst die Schule abschließen. Danach sehen wir weiter.“
Nachdem ich wieder in Gambia war, schickte mein Onkel seinem Bruder, meinem Vater, jeden Monat Geld. Auf die Art und Weise konnte ich einigermaßen entspannt zurück zur Schule gehen, ohne mir große existenzielle Sorgen zu machen.
Zwei Monate, bevor ich meinen 12. - Klasse – Abschluss machen würde, starb mein Vater. Mit seinem Tod brach auch der Kontakt zu meinem Onkel ab. Meine Mutter heiratete relativ schnell einen neuen Mann, der sie von da an finanziell unterstützte, und mein Onkel hatte sozusagen seine Pflicht getan. Er schickte mir ab und zu aber noch Geld für meine Bildungskosten. (Viele gambische junge Erwachsene, die mit den Ergebnissen ihres Abschlusszeugnisses nicht zufrieden sind, gehen nach ihrer regulären Arbeit zu sogenannten private classes. Die Kosten dessen müssen selbst übernommen werden. Nach einem bestimmten Zeitraum können Prüfungen in einzelnen Fächern noch einmal wiederholt werden. So hat man die Chance, die Noten zu verbessern und die Chancen für Jobs oder Studiengänge erhöhen.)
Ich denke nicht, dass ich den Backway noch ein drittes Mal versuchen werde. Aber hier in Gambia zu bleiben ist trotzdem niemals mein Lebensziel. Wenn du hier in Gambia an den nächsten Morgen denkst… Oh Gott, was soll ich sagen. Du gehst für mehr als 12 Jahre zur Schule, danach vielleicht zur Berufsschule, wenn du dir Universität nicht leisten kannst...dann kriegst du vielleicht einen Job, in dem du 5000-6000 Dalasi verdienen kannst. Ein Sack Reis kostet 2000 Dalasi. Öl. Zwiebeln. Die Fahrtkosten zur Arbeit und wieder zurück, jeden Tag… wenn du keinen eigenen Compound besitzt, musst du irgendwo zur Miete wohnen. All das kommt locker auf 4000 Dalasi im Monat oder mehr. Es gibt so viel. Es wird nie ein Monat kommen, in dem du einfach eine entspannte Zeit haben kannst. Du kannst kaum etwas sparen, und wenn du Kinder hast, wird die finanzielle Situation noch angespannter.
Die meisten haben hier zwei Jobs. Morgens und vormittags arbeitest du beispielsweise im Krankenhaus, nachmittags bis abends gehst du zu deinem anderen Job in einer Apotheke. Später dann kommst du zum schlafen nach Hause. Und ein paar Stunden später geht alles wieder von vorne los. Auch am Wochenende.
Das ist doch kein Leben.
Einige von ihnen sind sehr böse Menschen. Wenn sie ein Gebiet für sich eingenommen haben, herrscht dort Anarchie. Dort gelten nur ihre eigenen Gesetze.
Wenn man also weiter nach Niger will, muss man ein Stück durch die Wüste, wo man sie antrifft. Zu der Zeit war es nicht sicher, von Mali direkt nach Algerien zu reisen. Man nahm einen Umweg über Niger. Diese Tuaregs sind auch diejenigen, die einen mit dem Auto über die Grenze transportieren. Und wenn man Pech hat und kein Geld vorweisen kann, nehmen sie einen gefangen, tun einem Gewalt an und verlangen, dass man die eigenen Eltern im Heimatland anruft, damit diese Geld senden. Erst dann kommt man wieder frei. Man kann diesen Tuareg nur schwer entkommen, denn man muss immer durch ihr Gebiet durch. Ich habe von manchen gehört, die es an ihnen vorbei geschafft haben, aber ich weiß wirklich nicht, wie.
Ich musste also wieder bezahlen. Das tat ich, und wir setzten die Reise fort. Aber diese Schlepper haben ein komplexes System. Sie bringen einen nur bis an einen bestimmten Punkt und sprechen sich mit Kollegen ab, dann muss man das Fahrzeug wechseln, mit anderen Leuten weiterfahren. Das kann sich beliebig oft wiederholen. Immer muss man aufs neue Geld bezahlen, sonst wird man einfach zurückgelassen. Am Ende teilen sich alle das eingenommene Geld.
Ich kam nach Niger und von dort aus nach Algerien. Aber als ich dann dort war, beschloss ich, dass ich nach Hause zurück musste. Ich hatte kein Geld mehr und hatte zwischendurch schon mein Handy verkaufen müssen, um finanziell weiterzukommen. Ich konnte also meinen Onkel auch nicht mehr erreichen.
Wir waren eine Gruppe von Männern, die sich auf dem Weg zusammengefunden hatte, die alle beschlossen hatten, zurückzukehren. Also meldeten wir uns bei der nächsten Polizeiwache. Wenn man ohne gültiges Visum in Algerien ist, sich aber freiwillig stellt, kann man mit UN in Kontakt treten.
(UN: United Nations, auch UNO, United Nations Organization. Ein zwischenstaatlicher Zusammenschluss von 193 Staaten und als globale internationale Organisation ein uneingeschränkt anerkanntes Völkerrechtssubjekt. Hauptaufgaben: die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, die Entwicklung besserer, freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Nationen, die internationale Zusammenarbeit, Lösung globaler Probleme und Förderung der Menschenrechte und der Mittelpunkt zu sein, an dem die Nationen diese Ziele gemeinsam verhandeln. Quelle: Wikipedia.)
UN übernimmt dann die Verantwortung. Sie stellen einen Fahrer zur Verfügung, der einen sicher ins Heimatland zurückbringt, und sorgen für diesen Zeitraum der Rückreise auch für Verpflegung. Wenn man zurück ist, kann die UN einem mit einem Geldbetrag helfen, hier ein Business aufzubauen, damit man nicht noch einmal den Backway versuchen muss. (Das ist auch in der oben verlinkten Dokumentation zu sehen.) Einer meiner Jungs hatte das Glück, an diesem Programm teilzunehmen. Er hatte es damals bis nach Marokko geschafft. Von dort aus hatte er drei Mal versucht, übers Meer nach Spanien zu kommen, aber er hatte kein Glück. Weißt du, die Marrokaner...sie werden dich nicht dabei unterstützen, ihr Land zu verlassen, um nach Europa zu siedeln. Aus Rassismus. Da spielt die Hautfarbe wieder eine Rolle. Aber auch aus Neid. Nach dem Motto, wenn wir nicht nach Europa können, dann auch niemand anderer. Das ist jetzt meine eigene Meinung: die Marrokaner sehen sich nicht als Afrikaner, sondern als Europäer. Deswegen behandeln sie Mitbürger aus anderen Teilen Afrikas auch nicht wie ihresgleichen. Dabei sind sie genauso Afrikaner wie wir.
Mein Freund wurde jedes Mal von der marrokanischen Polizei festgenommen und kam dann temporär ins Gefängnis. Manche andere versuchen auch, von Lybien oder Tunesien aus das Meer nach Italien zu überqueren. Ich kenne drei entfernte Cousins, die das so geschafft haben.
Aber das Endziel ist immer Deutschland. Jeder, den ich kenne, will nach der Backway – Reise in Deutschland enden. Alle stellen sich vor, dass es dort wie im Paradies sein muss.
Meine Cousins sind momentan in einem Flüchtlingscamp. Sie werden nicht deportiert, aber kommen auch noch nicht raus. Ich weiß nicht, was mit ihnen passieren wird.
Als ich das zweite Mal versuchte zu flüchten, war die Reise nur sehr kurz. Ich erreichte Mali und stoppte dort, um meinen Onkel wiederzutreffen. Er sagte zu mir: „Als du letztes Mal unterwegs warst, haben wir unser ganzes Geld verloren. Ich habe hier ein Business (einen Großhandel). Bleib hier und arbeite für mich.“ Das tat ich dann für eine Weile, denn ich wollte meine Familie in Gambia nach wie vor unterstützen. Irgendwann kam ein sehr gebildeter Mann in den Laden. Er war ein regelmäßiger Kunde. Wir kamen ins Gespräch. Dieser Mann sagte irgendwann zu meinem Onkel: „Es ist eine Verschwendung des Potenzials dieses Jungen, dass er hier arbeitet. Er muss zurück zur Schule gehen und einen richtigen Abschluss machen. Du solltest ihn dabei unterstützen.“
Mein Onkel sah ein, dass der Mann Recht hatte. Aber Mali ist ein frankophones Land. Ich sprach nicht gut französisch und hätte in der lokalen Schule Schwierigkeiten gehabt. Zu dem Zeitpunkt sollte ich zurück in die 11. Klasse gehen. Also sagte mein Onkel zu mir: „Mach dir keine Sorgen. Geh zurück nach Gambia und fang dort wieder neu an. Ich werde euch finanziell unterstützen, und du kannst die Schule abschließen. Danach sehen wir weiter.“
Nachdem ich wieder in Gambia war, schickte mein Onkel seinem Bruder, meinem Vater, jeden Monat Geld. Auf die Art und Weise konnte ich einigermaßen entspannt zurück zur Schule gehen, ohne mir große existenzielle Sorgen zu machen.
Zwei Monate, bevor ich meinen 12. - Klasse – Abschluss machen würde, starb mein Vater. Mit seinem Tod brach auch der Kontakt zu meinem Onkel ab. Meine Mutter heiratete relativ schnell einen neuen Mann, der sie von da an finanziell unterstützte, und mein Onkel hatte sozusagen seine Pflicht getan. Er schickte mir ab und zu aber noch Geld für meine Bildungskosten. (Viele gambische junge Erwachsene, die mit den Ergebnissen ihres Abschlusszeugnisses nicht zufrieden sind, gehen nach ihrer regulären Arbeit zu sogenannten private classes. Die Kosten dessen müssen selbst übernommen werden. Nach einem bestimmten Zeitraum können Prüfungen in einzelnen Fächern noch einmal wiederholt werden. So hat man die Chance, die Noten zu verbessern und die Chancen für Jobs oder Studiengänge erhöhen.)
Ich denke nicht, dass ich den Backway noch ein drittes Mal versuchen werde. Aber hier in Gambia zu bleiben ist trotzdem niemals mein Lebensziel. Wenn du hier in Gambia an den nächsten Morgen denkst… Oh Gott, was soll ich sagen. Du gehst für mehr als 12 Jahre zur Schule, danach vielleicht zur Berufsschule, wenn du dir Universität nicht leisten kannst...dann kriegst du vielleicht einen Job, in dem du 5000-6000 Dalasi verdienen kannst. Ein Sack Reis kostet 2000 Dalasi. Öl. Zwiebeln. Die Fahrtkosten zur Arbeit und wieder zurück, jeden Tag… wenn du keinen eigenen Compound besitzt, musst du irgendwo zur Miete wohnen. All das kommt locker auf 4000 Dalasi im Monat oder mehr. Es gibt so viel. Es wird nie ein Monat kommen, in dem du einfach eine entspannte Zeit haben kannst. Du kannst kaum etwas sparen, und wenn du Kinder hast, wird die finanzielle Situation noch angespannter.
Die meisten haben hier zwei Jobs. Morgens und vormittags arbeitest du beispielsweise im Krankenhaus, nachmittags bis abends gehst du zu deinem anderen Job in einer Apotheke. Später dann kommst du zum schlafen nach Hause. Und ein paar Stunden später geht alles wieder von vorne los. Auch am Wochenende.
Das ist doch kein Leben.
Das ist die Geschichte von A, der über seinen Bruder M berichtet
Mein Bruder ist in Deutschland. Der Weg, wie er dorthin kam, war durch die illegale Immigration, diese sehr riskante Reise nach Europa. 2016 machte er sich auf den Weg. Von Gambia nach Senegal, vom Senegal nach Mauretanien, von Mauretanien nach Mali, von Mali nach Niger, von Niger nach Lybien. In Lybien verbrachte er 5 Monate. Dann hatte er Glück, es mit dem Boot endlich nach Europa zu schaffen. Zuerst nach Italien. Dort verbrachte er 2 Monate, bevor er nach Deutschland weiterreiste. Das war sein Ziel gewesen. Er sagte immer: „Wenn ich es nach Europa schaffe, dann muss es Deutschland sein.“ Unser Onkel lebt dort nämlich auch. Er hat dort geheiratet und eine Familie gegründet. Seine deutsche Frau war immer gut zu uns und hat die Familie auch finanziell unterstützt. Ihr war es so wichtig, dass alle aus der Familie zur Schule gehen können.
Mein Onkel besuchte uns oft in Gambia und brachte auch manchmal deutsche Freunde mit. Durch all diese Interaktionen hat mein Bruder eine Leidenschaft für Deutschland entwickelt. Er hatte einen Traum. Und er war sehr entschlossen.
Hier haben alle sehr starke Gefühle bezüglich Europa. Und die Gründe, warum jemand wirklich die Entscheidung trifft, sich auf den Weg zu machen, variieren. Die meisten gehen natürlich aus Verzweiflung, weil die Situation der Familie nicht mehr tragbar ist. Wieder andere werden davon beeinflusst, dass es viele vor ihnen schon probiert haben. Sie sehen
Backway – Reisen, die gut ausgegangen sind, und wollen unbedingt dasselbe. Sie möchten etwas aus ihrem Leben machen, Die Chancen, hier Erfolg zu haben, sind so limitiert. Der Glaube, in Europa alle Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung zu haben, ist weit verbreitet. Und endlich die Familie so unterstützen zu können, wie sie es verdient hat…
M ist jetzt angehende Pflegefachkraft! Momentan befindet er sich im zweiten Lehrjahr. (A sieht stolz aus. Ich fühle mich auch stellvertretend richtig stolz.) Und er hat vor zwei Monaten seine offizielle Aufenthaltserlaubnis bekommen. Er möchte Karriere machen und seine Kapazitäten maximieren. Das war der Hauptgrund, warum er gegangen ist, denke ich. Er war auf seine Bildung fokussiert, Bildung war für ihn das wichtigste. Ich habe mit ihm nie ein richtig offenes Gespräch darüber geführt, warum er letztendlich gegangen ist, aber ich bin mir sicher, dass das der Grund war.
Wir haben uns damals nicht verabschiedet. Zu der Zeit war ich selbst in der Nursing School, in einer anderen Stadt. Ich weiß noch genau, an einem Freitag rief er mich an, gegen 12 Uhr.
Er sagte: „A, hast du Zeit. Ich möchte mit dir sprechen.“
„Warte, ich möchte jetzt erst mal in die Moschee, es ist Zeit für friday prayers. Danach kann ich dich zurückrufen“ antwortete ich. Ich dachte mir nichts dabei. Aber ich vergaß dann auch völlig, ihn zurückzurufen. Und er meldete sich auch nicht mehr. Nach ein oder zwei Wochen hörte ich von jemand anderem, dass er das Land verlassen hatte. Als ich ihn dann erreichte, sagte er mir, er wäre bereits in Mali.
„Du hattest hier doch einige Verpflichtungen“ sagte ich zu ihm.
„Ja, aber ich musste das tun. Ich sehe hier in Gambia keine Zukunft.“
Damals war es noch schwieriger als heute, es gab noch weniger Jobs. Und jetzt kann er seinen Traum leben.
Ich glaube, seine Backway – Reise lief verglichen mit anderen gut ab. Er hatte einfach wirklich Glück. Ihm ist nichts schlimmes zugestoßen, zumindest hat er nie davon erzählt. Ihm wurde keine Gewalt angetan, er kam nicht ins Gefängnis. Die größte Schwierigkeit war, dass sein Asylantrag bewilligt wurde. Ich weiß nicht genau, wie das mit den Behörden alles genau ablief.
Aber M ist sehr intelligent. Er wusste, dass er etwas dafür tun müsse, damit er bleiben könne. Und deshalb hat er sehr schnell deutsch gelernt. Er wollte unbedingt Pflegefachkraft werden. Also ging er hier in Deutschland noch einmal zurück zur Schule und machte den 9. - Klasse – Abschluss. Von dort aus hat er die einjährige Ausbildung zum Pflegehelfer absolviert. Und von dort aus weiter in die Fachausbildung. Und so hat er es irgendwie geschafft, dass sein Aufenthaltsstatus akzeptiert wurde und er ein offizielles Dokument bekommen hat. Er kann jetzt ohne Probleme ein- und ausreisen.
M ist eigentlich eher introvertiert. Auch, als er noch hier war, war Bildung und seine berufliche Zukunft für ihn das wichtigste. Mein Bruder ist ein ruhiger, zurückgezogener Mensch. Als er Gambia verließ, waren viele Leute sehr überrascht. So viele von ihnen dachten, dass ich derjenige sein würde, der es versuchen würde. Ich war immer aktiver als er, und viel dickköpfiger, rebellischer.
Unsere Eltern sind stolz darauf, was mein Bruder erreicht hat. Sie erwarten auch nicht, dass er Geld nach Hause schickt, sie wollen, dass er erst mal die Ausbildung fertig macht, ohne sich Sorgen machen zu müssen. Im Moment sind sie, Gott sei Dank, nicht zum Überleben auf sein Geld angewiesen.
Ich habe ihn neulich mal gefragt, ob er eigentlich eine Freundin hat. Aber, und das liebe ich sehr an ihm, er sagte zu mir, „Nein, ich habe keine Freundin. Ich muss unter allen Umständen fokussiert bleiben. Ich habe unser Zuhause verlassen, weil ich ein Ziel hatte, und das verliere ich nie aus den Augen. Ich möchte in meiner Ausbildung erfolgreich sein und mein deutsch perfektionieren.“
M möchte unbedingt, dass Deutschland ein Teil von ihm wird, und er tut wirklich alles, um sich gut zu integrieren. Er geht auch nicht auf Partys oder in Clubs, sondern bleibt meistens zuhause und liest seine Bücher. Er sagt immer, wenn er das erreicht hat, was er will, kommt alles andere.

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