Backway, Teil I

Ich unterbreche die Serie meiner Mitfreiwilligen für ein Thema, das mir extrem am Herzen liegt. Ursprünglich wäre Theresa dann an der Reihe gewesen, aber an dem Tag, an dem wir das Interview führen wollten, war gerade mein Patient gestorben und ich fühlte mich zu niedergeschlagen. Dann fuhren Theresa und Ava in den Senegal, um dort Urlaub zu machen.
Sie sind jetzt wieder da und werden sehr bald auch zu Wort kommen. Und im vergangenen Monat habe ich angefangen, über etwas anderes zu berichten, was ich vorher nicht geplant hatte. Ich möchte über den Backway sprechen.
 
Ich bin keine professionelle Journalistin. Ich bin auch keine Autorin. Ich bin nur eine Krankenschwester, die schon seit Kindesalter irgendwie besessen vom Schreiben war, tausend Buchideen angefangen und keine davon beendet hat. Bestimmt 20 Tagebücher angesammelt hat. Die früher Gedichte und Kurzgeschichten verfasst hat und total überzeugt von ihrer Arbeit war, warum auch immer.
Meine Eltern waren immer so süß und unterstützend in der Hinsicht, besonders meine Mutter, manchmal las sie meine Texte und rief sofort Bekannte an, um sie ihnen vorzulesen. Einmal schenkte sie mir ein großes Fotoalbum, das sie selbst für mich gemacht hatte, und ganz hinten hatte sie alte Gedichte von mir eingeklebt, die sie selbst abgetippt und ausgedruckt hatte. Mein Gott, war das ein schönes Geschenk.
Meine Mutter ist mein Fan, mein Supporter, bis heute, das fühle ich, und umgekehrt geht es mir genauso, auch wenn ich das nicht immer gut zeigen kann. Das hat vielerlei Gründe, aber ich habe ihre Passion und ihre Kunst immer bewundert. Und ich bin so dankbar, von meinen Eltern in der Hinsicht gesehen zu werden, was mir an anderen Stellen gefehlt hat, bekam ich dort auf jeden Fall.

Ich werde immer nostalgisch. Was ich damit ausdrücken möchte, ist, dass ich weiß, dass ich vermutlich gar nicht qualifiziert genug bin, um über so ein Thema zu berichten. Aber ich kann trotzdem nicht darüber schweigen. Ich habe so viel zu sagen. So viel zu berichten. Ich habe mich in den letzten Wochen und Monaten mit verschiedenen Menschen unterhalten, Interviews geführt und recherchiert. Es muss darüber gelesen und gesprochen werden.
Das Thema Immigration nach Europa war etwas, von dem ich lange Zeit in meinem Leben überhaupt keine Ahnung hatte. In meinem Land herrschen viele falsche Vorstellungen und Vorurteile. Ich höre ausländerfeindliche Aussagen in meinem Alltag. Ich lese sie auf Social Media. Genauso bekomme ich Menschen mit, die sich für das Thema Immigrantion und Flüchtlinge einsetzen, die versuchen, Aufklärung und Aktivismus zu betreiben.
Aber ich hatte mein ganzes Leben lang keine Meinung zu dem Thema. In den seltenen Fällen, in denen in meinem Freundeskreis das Thema aufkam, hörte ich manchmal zu, manchmal auch nicht. Ich beteiligte mich nicht, denn ich fand, wenn ich wenig bis gar nichts darüber wüsste, wäre es nicht richtig, mich mit einzubringen. Und, ich bin extrem ehrlich: ich war, so lange ich denken kann, immer viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt, um mich damit auseinanderzusetzen.
Ob das gesund war? Vermutlich nicht. Aber die Umstände meines Lebens waren die, die sie waren. Und vor Gambia hatte ich selten das Bedürfnis, diesen Zustand zu ändern.
Umso dankbarer bin ich, dass ich über all das etwas besser Bescheid weiß. Und nicht nur in der Theorie, sondern über das, was meine Mitmenschen mir hier vor Ort erzählt haben. Menschen die ich schätze, die ich mag, die ich liebe.
Aber gleichzeitig bin ich deshalb auch umso trauriger.

Ich erinnere mich daran, dass ich vor drei oder vier Jahren mit meinem damaligen Partner meine Lieblingsserie schaute, 90 Day Fiance. Jeder, der mich länger kennt, weiß, dass ich besessen von dieser Reality-Show bin. Es geht um Amerikaner*innen, die einen ausländischen Partner haben. Die Partner reisen mit dem Verlobtenvisum in die USA ein. Jene zwei Menschen müssen dann innerhalb von 90 Tagen heiraten. Wenn das nicht passiert, wird der ausländische Partner wieder ausgewiesen. In einer Staffel gab es Evelyn und David.
Evelyn ist Amerikanerin und David Spanier. Die beiden sitzen kurz nach Davids Ankunft in einem amerikanischen Diner, essen fettige glasierte Donuts und Pancakes und trinken Kaffee aus
XXL – Tassen. Evelyn und David streiten sich dann auch schnell, irgendein trivialer Grund, ich glaube, die Farbe des Hochzeitsanzugs. Irgendwann sagt Evelyn völlig genervt: „Sei doch froh, dass du überhaupt hier sein darfst.“
„Mir gefiel mein Leben in Spanien auch sehr gut. Ich hatte dort keine Probleme“ gibt David zurück.
„Ach, Unsinn, jeder möchte nach Amerika. So etwas wie den europäischen Traum gibt es überhaupt nicht.“ (Sie spielt damit auf das Klischee des ‚American Dream‘ an.)
Ich habe daran seit Jahren nicht mehr gedacht. Vor ein paar Wochen fiel mir das wieder ein, diese Aussage. Ich dachte mir, wie falsch diese Frau liegt mit ihrem Glauben, dass es den europäischen Traum nicht gäbe, wie wahnsinnig falsch.
Evelyn müsste sich nur mit ein paar Menschen hier unterhalten, um zu verstehen, dass das komplette Gegenteil der Fall ist.
 
Die Realität ist: viele Bürger hier träumen von einer Zukunft in Europa. In jeglicher Hinsicht.
Jeder hat seine Motivationen, jeder hat seine eigene Geschichte und persönliche Beweggründe. Auch wenn diese sich oftmals ähneln.
Und dann gibt es verschiedene Möglichkeiten, zu versuchen, Brücken nach Europa zu schlagen. Manche versuchen es über Stipendien, Auslandssemester, bewerben sich auf Jobs, sind aber selten erfolgreich. Andere versuchen es über Freundschaften oder Liebesbeziehungen. Vor allem Männer machen es sich manchmal zum Beruf und zur Lebensaufgabe, eine europäische Frau kennenzulernen. Oft am Strand und/oder in touristischen Gegenden, aber auch online. Ich kenne jemanden, der ein richtiges System hatte, wie vielen Frauen er jeden Tag auf welchen sozialen Netzwerken Freundschaftsanfragen und Nachrichten schickte. Nach dem Aufstehen, dann um 14 Uhr wieder, dann vor dem Schlafengehen noch einmal. Jeden Tag eine genaue Anzahl an Frauen. In der Hoffnung, dass die Menge das Glück machte. Dass es irgendwann eine für ihn geben würde. Natürlich, sagte mir dieser Mann, würde er diese Frauen nie ausnutzen. Es ginge ihm nur um die Mentalität. Er ertrage gambische Frauen nicht, sie hätten für ihn nicht die richtige Mentalität. Außerdem seien Europäerinnen viel hübscher. Er war nicht der einzige Mann, der mir solche Gründe in abgewandelten Versionen vortrug.
Ich möchte nicht darüber urteilen. Das kann ich auch gar nicht. Meistens versuche ich das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Ich will niemandem Moralpredigten halten oder ihn maßregeln. Vielleicht empfinden das manche wirklich so, vielleicht haben sie es sich auch so lange eingeredet, bis sie selbst daran glauben.
Wenn die beiden vorher genannten Optionen nicht in Frage kommen oder funktionieren, gibt es noch die dritte Variante, die Flucht, der Backway.
Ich kannte den Begriff vorher nicht. Ich finde den Klang an sich schon unheimlich, irgendwie dunkel. Wenn ich es höre oder sage, kriege ich direkt ein flaues Gefühl im Magen, ich merke das richtig körperlich. Ich habe in den letzten Monaten so viel darüber gehört und gelesen, auch einmal eine extrem gut gemachte Dokumentation im Freiwilligen - Zwischenseminar dazu gesehen. 
Hier der Link für diejenigen, die es interessiert. Ich kann die Doku empfehlen. Sie hilft wirklich, zu verstehen. 


Und ich hatte das Privileg, drei Menschen in einem persönlichen Gespräch diesbezüglich zuhören zu dürfen.

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