Backway, Teil III
In diesen Einzelfällen haben Eltern und Familienangehörige ihre Söhne nicht gebeten, nach Europa zu gehen. So läuft das aber leider nicht immer. Ich habe im Laufe meiner Recherche auch mit Freunden und Bekannten gesprochen - Material, das ich nicht verwendet habe - die berichteten, vor allem ihre Väter hätten sich das gewünscht. Hätten es erwartet. (Auch das kann man in der Dokumentation sehen.)
Die Geschichten von S, Abdourahman und A haben eine Sache gemeinsam – das, was diese Männer erlebt haben, ist vergleichsweise noch mal gut ausgegangen. Nichts daran ist zu beschönigen, aber es gibt auch andere Ausgangssituationen.
Die Fälle, in denen Menschen auf dem Weg gekidnapped und dann in der Wüste oder im Meer ausgesetzt werden.
Die Fälle, in denen Menschen vergewaltigt und/oder zur Prostitution gezwungen werden.
Die Fälle, in denen Menschen in eine Box gesperrt werden, anschließend die Angehörigen angerufen werden und die Aussage getätigt wird: Solltet ihr uns nicht in Kürze Geld schicken, stirbt euer Familienmitglied in dieser Box, denn wir werden sie nie wieder öffnen.
Die Fälle, in denen Menschen ins Staatsgefängnis gesteckt werden und dort gefoltert und ermordet werden.
Nach allem, was ich hier in den vergangenen 5 Monaten gesehen und erlebt habe, verstehe ich jeden Staatsbürger, der hier weg möchte. Das gilt auch für andere Entwicklungsländer, aber ich kann nur explizit für Gambia sprechen, weil ich in Gambia lebe.
Und damit will ich unter keinen Umständen sagen, dass Gambia ein schrecklicher Ort ist. Gambia ist ein einzigartiges, facettenreiches, stolzes und schönes Land. Aber eben auch ein Land mit großen existenziellen Problemen.
Ich verstehe verdammt nochmal jeden einzelnen Menschen hier, der gern versuchen möchte, ein besseres Leben für sich und Familie zu schaffen. Ein normales Leben. Egal, was der Preis dafür ist.
Und jeder Mensch, der sich dagegen ausspricht, sollte sich folgende Fragen stellen.
Ja, wenn man gesund ist, kann man immer leicht sagen, ach, ich bin selten krank. Das würde mir gar nicht so viel ausmachen.
Irgendwann fällst du vielleicht in eine Grube oder wirst von einem Auto angefahren und brichst dir beide Beine. Einfach so. Du kannst dir professionelle Ärzte oder eine Operation nicht leisten. Irgendein Assistent im Gesundheitszentrum des Dorfes versucht zu schienen, aber macht es nicht richtig. Die Knochen können nicht richtig wieder zusammen wachsen. Das wars mit deinen Beinen. Du bist auf die Hilfe deiner Kinder und deiner Ehefrau angewiesen, weil du selbst kein Geld mehr verdienen kannst. So etwas wie einen Pflegedienst oder staatliche finanzielle Unterstützung für Menschen mit Behinderungen gibt es hier nicht. Gibt es hier nirgendwo. Das kannst du vergessen.
Die Menschen, die sich einen Rollstuhl leisten konnten oder einen geschenkt bekamen, sitzen jeden Tag an der Seite der Marktstraße hier in Brikama oder vor einer Moschee oder vor einem Bankautomaten, in der Hoffnung, Spenden zu erhalten. Sie müssen einfach selbst zusehen, wo sie bleiben. Es gibt keine Einrichtungen für sie. Ich gehe jeden Tag an ihnen vorbei, auf dem Weg zur Arbeit. Männer ohne Beine. Frauen ohne einen Arm, ohne eine Hand. Die ungeheuerlichsten Deformitäten, die ich so noch nie gesehen habe. Kinder mit schlaffen Paresen oder Spastiken, mit weggetretenen Blicken, denen Speichel aus dem Mund läuft.
Oder dein Zahn fängt an, wehzutun. Du gehst nicht zum Zahnarzt. Denn wenn du den Zahnarzt bezahlst, weißt du nicht, wie du den Rest des Monats über die Runden kommen sollst. Dann kannst du kein Essen für dich und deine Kinder kaufen, kannst die Schulgebühren nicht bezahlen, den Strom in deinem Haus, das Waschmittel. Und deine Verwandten haben auch kein Geld, dass du dir leihen kannst. Du holst dir Hilfe beim Herbalisten, der dir lokale Kräuter oder dergleichen verkauft, was erst einmal billiger ist, aber das hilft dir nur temporär. Der Zahn entzündet sich mit entsetzlichen Schmerzen, im schlimmsten Fall erleidest du eine Blutvergiftung, du kannst mit deinem Gehalt keinen Aufenthalt auf Intensivstation bezahlen, du stirbst. So einfach.
Du hast Diabetes, aufgrund von Vererbung oder schlechter Ernährung. Du kannst deinen Diabetes nicht behandeln, weil du dir die Medikamente und das Insulin nicht leisten kannst oder keinen Zugang dazu hast, oder gar nichts von deiner Diagnose weißt. Jahrelang unbehandelt, kriegst du Folgeerkrankungen wie diabetisches Vorfußsyndrom. Dein Fuß samt Unterschenkel wird amputiert. Du kannst dir auch keine Prothese oder einen Rollstuhl leisten. Du wirst den Rest deines Lebens in deinem Haus oder in deinem Innenhof verbringen.
Du kannst deinen hohen Blutdruck über Jahre nicht behandeln. Du bekommst einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt, es gibt hier keine Krankenwagen, also muss irgendein Freund erst mal kommen und dich fahren. Bevor du in dem einzigen Krankenhaus angekommen bist, das dir helfen könnte, bist du gestorben.
Du kämpfst mit Übelkeit und Durchfall. Später kommt Erbrechen dazu. Du machst in einem Krankenhaus ein Röntgenbild des Abdomen, aber dort ist nicht zu sehen. Du bräuchtest eine umfassende Diagnostik mit Bluttests und Stuhlproben, aber vor allem eine Magen – oder Darmspiegelung, um zu erkennen, was das Problem ist. Aber das alles passiert im Privatkrankenhaus, und das kannst du dir nicht leisten. Vielleicht ist es Krebs. Vielleicht ist es ein Magengeschwür. Leider wirst du das nie erfahren. Du wirst irgendwann ins öffentliche Health Center gebracht, nachdem deine Mutter dich zu Hause nicht mehr versorgen kann. Bekommst intravenös Flüssigkeit und Vitaminpräparate, aber du verlierst weiter und weiter all das Gewicht, das du hast. Nach 6 Monaten stirbst du.
Das hier sind keine dramatischen ausgedachten Theorien, sondern Geschichten einzelner Individuen, die sich alle genau so abgespielt haben. Einige habe ich gehört, bei anderen war ich selbst dabei.
Erkältungen, Grippe, Malaria, das ist alles nicht das Problem. Das wird dich nicht in den Ruin treiben. Aber sobald mal eine ernstere Erkrankung passiert oder ein chronisches Leiden, wird sich immer die Frage stellen, wie du das behandeln willst, wenn du die finanziellen Mittel nicht hast. Und wenn du einen normal verdienenden Job hast, wie zum Beispiel Verkäufer auf dem Markt, Reinigungskraft oder Pflegehelfer, dann wirst du die finanziellen Mittel nicht haben.
Viele meiner Mitmenschen haben von vornherein solche Angst vor den hohen Kosten in Krankenhäusern, dass sie bei Beschwerden lieber zur Apotheke gehen. Denn dort kriegt man für weniger Geld eine Beratung und Medikamente. Was der Nachteil daran ist: die Mitarbeiter dort sind nicht ausreichend qualifiziert. Die Qualität der Behandlung wird auch von niemandem überprüft. Es ist im Grunde völlig egal, was du für Beschwerden hast. Denn hier herrscht der große Irrglaube, dass Antibiotikum das Allheilmittel sei, dicht gefolgt von Schmerztabletten. Jedes Mal, wenn ich mir nach einem Apothekenbesuch die Medikamente meiner Freunde oder Familienmitglieder anschaue, finde ich Amoxicillin, Paracetamol und Vitamin B. Es wird wirklich Amoxicillin verschrieben, als gäbe es keinen Morgen mehr. Oder Metronidazol, Doxycyclin, Septrin, Penicillin, you name it.
Ich verspüre eine ohnmächtige Wut über diesen leichtfertigen Umgang damit, denn ich weiß, was übermäßiger Gebrauch mit dem Körper machen kann. Das wurden meine Eltern auch nie müde, mir als Kind und Jugendliche zu sagen. Magen – Darm – Probleme, Pilzinfektionen, chronische Resistenzen, Leberschäden. Mit Schmerzmitteln verhält es sich ähnlich. Ich weiß, dass die Mitarbeiter in den Apotheken denken, den Patienten damit etwas gutes zu tun, weil sie es nicht besser wissen. Aber es gäbe andere Wege. Vieles ließe sich auch durch eine ausführliche Diagnostik im Krankenhaus klären. Aber, und damit kehren wir wieder zum Ausgangspunkt zurück, die kann man nun mal nicht bezahlen.
Die Säuglingssterblichkeit liegt bei 71,6 Todesfällen bei 1000 Geburten.
Auf die Frage, was passiert sei, konnte sie nicht antworten. Das erlebe ich hier wirklich fast jedes Mal: irgendjemand stirbt, oft viel zu jung, aber die Angehörigen wissen nicht, woran, verstehen nicht, was passiert ist.
Als Grund kann ich mir fehlendes Wissen über Krankheiten vorstellen. Vielleicht aufgrund unzureichender Bildung? Vielleicht auch einfach aus Angst? Manchmal, wenn ich sehe, dass meine Mitmenschen einigermaßen gefasst wirken, hake ich auch genauer nach. Was hat denn der Arzt gesagt? Hat er eine Todesursache genannt? Was war die Diagnose? Und dann höre ich oft Dinge wie: „Der Arzt hat das nicht richtig erklärt. Der Arzt benutzte viele Fachbegriffe, die wir nicht verstanden, und weigerte sich, es zu wiederholen.“ (Oder haben sie es vielleicht nicht verstanden und sich doch zu sehr geschämt, um nachzufragen?) „Der Arzt hat nicht genug getan. Der Arzt war nicht an unserer Aufklärung interessiert, sondern nur daran, Geld zu machen. Die Ärzte sind überhaupt an allem Schuld.“
Und auch, wenn ich oft große Fragezeichen und Unstimmigkeiten bezüglich dieser Geschichten habe, möchte ich diese trauernden Menschen nicht belehren, sondern sage meistens nichts mehr dazu, nur noch meine Kondolenzen.
Ich denke mir auch manchmal, dass es vielleicht unsensibel ist, überhaupt zu fragen, da die Antwort an dem Umstand sowieso nichts ändern wird. Ich bin das so gewohnt aus Deutschland. Mir ist aufgefallen, dass wir immer zuerst fragen, an welcher Krankheit es gelegen hat, auch wenn es natürlich schon zu spät ist.
Aber andererseits: wenn man die Ursache kennen würde, könnte man dann vielleicht irgendwelche Vorzeichen sehen, könnte man vielleicht Todesfälle in der Zukunft verhindern?
Solche Gedanken gehen mir oft durch den Kopf, ich habe so viele Fragen, und immer noch keine Antworten.
Würde ich gerne in einem Land leben, in dem man nur eingeschränkten Zugang zu Bildung hat?
Es gibt keine Schulpflicht. Wenn Kinder nicht zur Schule gehen, ist dies die Entscheidung der Familie, und es gibt kein Jugendamt oder Schulamt, das dem nachgehen wird.
Vor ein paar Jahren gab es keine kostenlose Schuldbildung, an jeder Schule musste gezahlt werden, Grundschulen und Oberschulen. Das hat sich jetzt zum Glück wieder geändert.
Lehrer werden staatlich gestellt.
50% der Männer und 33% der Frauen können lesen.
Ich sehe hier auch in der Klinik, dass viele unserer Patienten Analphabeten sind. Diese können nicht unterschreiben, sondern drücken ihren Daumen auf ein Tinten – Pad und hinterlassen ihren Fingerabdruck auf der Linie für die Unterschrift.
„Die staatlichen Schulen kosteten im Jahr pro Kind durchschnittlich 4000-6000 Dalasi.
(62, 85 Euro - 93, 86 Euro.) Für gute Privatschulen natürlich mehr.“
Im Vergleich: das Durchschnittseinkommen in Gambia beträgt monatlich 3000 Dalasi (niedrigster Lohn - das sind 60 Euro) bis zu 20 000 Dalasi (höchstmöglicher Lohn – das sind 313 Euro).
„Auf die Schulgebühren kamen noch andere Kosten: Schuluniformen, meist mitsamt Strümpfen und passenden Schuhen, Schulbücher, Hefte, Stifte, Schulrucksäcke und tägliches Geld für etwas zu essen. (Es gibt keine Kantinen.)
Die meisten Familien hier haben mehr als ein Kind und wollten natürlich alle zur Schule schicken. Aber manchmal funktionierte das nicht. Wenn die Gebühren nicht rechtzeitig bezahlt wurden oder die Eltern nicht die Mittel hatten, die neue Schuluniform zu kaufen, hatten wir Kinder für diesen Zeitraum keinen Zugang mehr zur Schule. Wir wurden dann nach Hause geschickt. Dort mussten wir so lange bleiben, bis gezahlt werden konnte. Ebenso konnte man Abschlussprüfungen ohne das nötige Geld nicht antreten. Damals war es auch in vielen Familien noch üblich, die Mädchen für domestische Tätigkeiten zu Hause zu lassen und nicht in die Schule zu schicken.“
Der Direktor des Regional Educational Office (Behörde für Bildung) erzählte mir im Interview:
„Ja, inzwischen sind Grundschulen und Oberschulen zum Glück kostenlos. Das einzige, das man noch selbst zahlen muss, sind die Schulmaterialien und die Verpflegung. Auch für die Prüfungen muss man keine Gebühren mehr bezahlen. Das war ein schleichender Prozess. Ich glaube, 2014 ging das langsam los, dass die Grundschulen kostenlos wurden. Später dann auch die Oberschulen. Das hat Yaya Jammeh (der vorherige Präsident) so veranlasst. Die Kindergärten, Vorschulen und islamischen Vorschulen haben eine Gebühr, aber diese ist sehr gering. Wenn man seine Kinder in private Betreuungen oder Schulen schicken möchte, ist das natürlich etwas anderes.
Wenn man zur Universität oder zur Berufsschule gehen will, gibt es verschiedene Möglichkeiten. Manchmal hat man Glück und bekommt ein Stipendium, manchmal hat man schon einen Arbeitsgeber, welcher dann bereit ist, das Studium zumindest teilweise finanzieren. Aber meistens muss man selbst zahlen oder Angehörige um Hilfe bitten. Die Kosten hängen immer vom Studiengang ab. Manche Studiengänge beginnen bei 30000 – 40000 Dalasi (470 – 630 Euro) und von da an aufsteigend. Ich würde nicht sagen, dass es nicht genügend Studienplätze gibt. Es gibt genug freie Plätze, sodass sich alle, die möchten, theoretisch bewerben können. Aber praktisch scheitert es vor allem an den Finanzen oder auch den Noten, die auf dem Abschlusszeugnis nicht gut genug waren.
Nein, wenn man hier seine Kinder nicht zur Schule schickt, gibt es niemanden, der kommt, um das zu überprüfen. Es ist nicht verpflichtend. Aber glücklicherweise kommt es immer seltener vor, dass Eltern ihre Kinder, vor allem die Mädchen, zuhause lassen.Wenn man sich die aktuelle Statistik der eingetragenen Schüler anschaut, sind es im Moment sogar mehr Mädchen als Jungen. Das ist eine großartige Entwicklung. Jeder hier kriegt die gleiche Chance.
Ja, die Statistik zeigt, dass die Quote der Arbeitslosigkeit in diesem Land sehr hoch ist. Nicht aufgrund mangelnder Bildung, sondern wegen fehlender Arbeitsstellen.“
Es gibt so viele Frauen und Männer hier in meinem Bekanntenkreis, die intelligenter sind, als ich es je sein werde, die so wahnsinnig gerne studieren würden, es sich aber nicht leisten können und auch niemanden haben, der es finanzieren kann. Für viele Studiengänge und Ausbildungen musst du erst einen Sponsor vorweisen können, damit du überhaupt ins Aufnahmeverfahren kommen kannst. Es gibt in jedem Jahr ein paar Stipendien, aber sie stehen in keinem Verhältnis zu all den Menschen, die fähig und gewillt sind, zu studieren.
Ich würde gerne als Sponsor für jemanden fungieren, damit derjenige zur Nursing School gehen kann, weil ich sehr an ihn und sein Potential glaube. Kurz bevor ich Gambia verlasse, möchte ich ihm das vorschlagen.
Ich wünschte einfach nur, ich könnte mehr tun.
Würde ich gerne in einem Land leben, in dem Arbeitslosigkeit an der Tagesordnung ist?
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass allgemein die Annahme besteht, Menschen hätten nur das Recht, vor irgendwelchen Kriegen oder Hungersnöten zu fliehen.
„Nur“ Wirtschaftsflüchtlinge treffen dann oft auf weniger bis kein Verständnis.
Hier einen Job zu haben, ist keine Selbstverständlichkeit, sondern das Resultat aus Glück, Kontakten und den entsprechenden Finanzen. Es ist am Ende des Tages völlig egal, wie fleißig du bist, wie intelligent du bist, wie hart du anpacken kannst, wenn kein Job da ist, ist kein Job da. Auch für die Menschen, die das Glück hatten, studieren zu können.
Es gibt trotzdem nicht genügend Arbeitsstellen.
Es gibt hier keine Websites, auf denen du lustig rumsurfen kannst und dir Jobs unter vielen aussuchst, die dich ansprechen. Dann schickst du mal ein paar Bewerbungen raus. Wirst am nächsten Tag zum Probearbeiten eingeladen, hast nächste Woche vielleicht ein Vorstellungsgespräch? So läuft es nicht.
Ich weiß noch, wie ich mit L im Restaurant saß und er mir erzählte, dass er 6 Monate für WesternUnion gearbeitet und sein Chef ihm diese ganzen 6 Monate sein Gehalt vorenthalten hatte. „Hättest du da nicht zur Polizei gehen können?“ frage ich entgeistert.
Und L lachte und sagt, so etwas würde die Polizei am wenigsten interessieren.
„Aber dann geh doch zum nächsten Standort. Warum hast du für jemanden gearbeitet, der dich gar nicht bezahlt? Es gibt so viele Büros von WesternUnion hier, such dir einfach ein anderes?“
„Nein, kann ich nicht einfach so.“
„Natürlich kannst du das. Du gehst einfach da hin und gibst deine Bewerbung ab. Du hast doch Erfahrung. Die würden dich locker nehmen.“
„Du verstehst das einfach nicht.“
Und ich verstand es in dem Moment wirklich nicht. Ich war wahnsinnig frustriert, weil er mir das durch die Sprachbarriere auch nicht richtig erklären konnte oder wollte, ich weiß nicht. Damals dachte ich, L hätte einfach eine Vogel-Strauß-Mentalität und steckte den Kopf in den Sand. (Unabhängig von WesternUnion ist da auch etwas dran, aber darum geht es jetzt nicht.)
Aber später erklärte mir mein Kollege und inzwischen auch mein in-law, L.S. , dass die Arbeitgeber meistens lieber Leute einstellen, die sie kennen oder mit denen sie befreundet oder verwandt sind. Danach kommen alle anderen Kandidaten. L.S. erzählte mir, dass er 7 Monate in einem Hotel gearbeitet hatte, bevor er zur Nursing School ging, und der Chef ihn manchmal bezahlte, manchmal aber auch nicht, wenn es angeblich kein Geld gab. Wenn L.S. sich darüber beschwerte, sagte der Chef, er solle doch einfach gehen und nie wieder zurück kommen, wenn ihm das nicht passe. (Was er dann auch nach kurzer Zeit tat.)
Und auch wenn man einen Job hat und dort regelmäßig bezahlt wird, es reicht oft anscheinend am Ende des Monats trotzdem nicht. Da ist alles, dass man für seine Kinder und deren Ausbildung investiert, und dann sind da Lebensmittel, Elektrizität, Kleidung, Schuhe, Transportkosten für die Fahrten zur Arbeit und nach Hause (es gibt keine Busse oder Züge mit Jahreskarten, sondern nur ausgebaute Vans, die dich von A nach B bringen können) Guthaben fürs Handy (es gibt hier keine Handyverträge) und Kosten für Medizin, falls man selbst oder ein Familienangehöriger eine akute Erkrankung oder ein chronisches Leiden hat.
Würdest du gerne in einem Land leben, dass dir vermutlich nie die Chance bieten wird, etwas anderes von der Welt zu sehen?
Wenn mir mein Leben in Deutschland aus irgendwelchen Gründen nicht mehr gefällt, kann ich beschließen, nach Skandinavien auszuwandern, und werde mich nie vor irgendwem dafür rechtfertigen müssen.
Ich kann in den Urlaub fahren, nach Asien, Australien, Amerika, Afrika, wie ich gerade lustig bin, und dort schöne Wochen oder Monate verbringen. Wenn es mir dort gut gefällt, kann mich dort nach Jobs umschauen, mich bewerben. Ich kann Praktika, Auslandssemester oder Freiwilligenarbeit im Land meiner Wahl absolvieren.
All das kann ich machen. Einfach, weil ich in Europa geboren bin. Weil ich Staatsbürgerin dieses Kontinents bin. Dazu habe ich nichts beigetragen. Ich hatte einfach Glück, dass meine Eltern deutsche Europäer sind. Ich hatte einfach das Privileg, hier aufzuwachsen. Ich habe mir das nicht ausgesucht.
Genauso, wie sich niemand in Gambia ausgesucht hat, hier geboren zu werden und aufzuwachsen. Der Unterschied zwischen uns ist, dass die meisten meiner gambischen Mitbürger nicht mal irgendwo in den Urlaub fahren könnten, wenn das Geld da wäre. Denn sie bekommen sowieso kein Visum. Ich habe mit so vielen Menschen gesprochen, die sich irgendwann mal auf ein Touristenvisum beworben hatten und sogar eine schriftliche Einladung von einem Europäer vorweisen konnten. Und immer wurde das Visum abgelehnt. Aufgrund von Fluchtgefahr.
Ja, viele wollen flüchten. Und wer kann es ihnen übel nehmen? Aber so viele der Bekannten und Freunde, die mir von ihren Urlaubsversuchen erzählt hatten, wollten einfach nur mal etwas anderes erleben, etwas von der Welt sehen. Sie haben Familien hier, die sie keinesfalls aufgrund einer Flucht zurücklassen würden. Aber es wird sich nicht mit den individuellen Hintergründen beschäftigt. Das Visum wird meist direkt abgelehnt. Wenn doch mal ein Aufenthalt in Europa bewilligt wird, dann offenbar nur, wenn man geschäftlich reist und selbst eine Firma hat, die man vorweisen kann.
Und ob das finanziell möglich ist, zu studieren und eine Firma zu gründen, hängt davon ab, in welche Verhältnisse man hineingeboren wurde.
Wenn sie sich das leisten können und das Glück haben, sehen die Menschen hier ein paar andere Länder ihres Kontinents Afrika, oder wenigstens das Nachbarland, den Senegal.
Aber viele sehen sie ihr ganzes Leben lang nur ihr eigenes Land.
Und ich habe schon so oft gehört und gelesen, dass Menschen sagen: Ja, dann müssen halt die Umstände in diesen Ländern verbessert werden, anstatt dass sie alle nach Europa kommen! Wir können nicht alle nach Europa lassen!
Und dieser Ansatz ist ja auch nicht falsch. Aber dann würde ich von diesen Menschen auch gern wissen: Wie denn? Habt ihr Ideen? Wie sollen denn die Umstände geändert werden? Und vor allem: von wem? Und wann? Habt ihr selbst einen Plan? Werdet ihr selbst hinfahren, um etwas zu tun?
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