Backway, Teil IIII

Mein Wort zum Schluss.
Was mich immer wieder massiv stört, ist eine bestimmte Art von Berichterstattung, die ich oft höre oder lese. Diese beinhaltet immer ungefähr den gleichen Kontext, in anderen Variationen. In etwa so:

Die Menschen in (hier betreffendes Land einfügen) leben in großer Armut und haben so wenig, aber sie sind trotzdem (immer) so glücklich. Sie erfreuen sich an den kleinen Dingen, die sie haben. Sie sind fröhlich und tanzen und feiern Feste. An ihrer Lebensfreude und Dankbarkeit könnte sich jeder Europäer ein Beispiel nehmen. Das zeigt immer wieder nur eins: dass wir keine
(hier irgendwelche materiellen Güter/Gelder einfügen) brauchen, um zufrieden zu sein!“

Ich kann das nicht mehr so sehen, und ich weigere mich, so etwas zu verbreiten. Vielleicht war ich früher auch so, vielleicht habe ich nach irgendwelchen Urlauben auch so etwas von mir gegeben und müsste mich im Nachhinein wirklich dafür schämen. Nach meinem Leben hier habe ich eine differenzierte Sicht auf diese Glaubenssätze. Wir sollten aufhören, uns nach einer kurzen Zeit in einem (Entwicklungs-) Land anmaßen zu können, zu wissen, ob „die Menschen“ glücklich sind.
Ja, ich erlebe jene Menschen, mit denen ich hier zutun habe, als positiv und bescheiden. Trotz aller Schwierigkeiten auch als optimistisch. Und auch beschweren sie sich viel seltener über alles mögliche und nörgeln weniger, als ich es aus meiner Kultur kenne. Es sind mitunter so wunderbare Menschen, die ich hier kennenlernen durfte. Unfassbar empathisch, warm, mitfühlend, vulnerabel, und auch irgendwie so verspielt - abseits festgefahrener Normen, wie man sich als „Erwachsener“ zu verhalten hätte.
Aber kann ich mich so weit in sie hineinversetzen, dass ich weiß, ob sie total glücklich und zufrieden sind? Nein. Natürlich sind sie stolz auf ihre Kultur, feiern ihre Feste, tanzen ihre Tänze. Die wenigsten setzen sich einfach nur hin, falten die Hände und sagen, dass sowieso alles hoffnungslos sei. Harte Arbeit und Pflichtbewusstsein der Familie gegenüber ist an der Tagesordnung.
Aber dass man trotz schwieriger Lebensumstände nicht aufgibt und sein Leben lebt, (sein Leben leben muss) bedeutet in meinen Augen nicht automatisch, dass man uneingeschränkt glücklich ist. Dass man keine finanzielle Sicherheit oder viele Gegenstände braucht. Dass man mit dem zufrieden ist, was man hat. Dass einem das reicht.
Am Ende des Tages weiß niemand, wie viele Menschen abends im Bett liegen und so schlimme Existenzängste haben, dass sie keinen Schlaf finden. Panik bei der Frage, wie sie dauerhaft ihre Kinder ernähren sollen. Angst, dass Krankheiten kommen und den finanziellen Ruin oder den Tod von geliebten Familienmitgliedern bedeuten. Die Frage, ob man sich sein Leben lang nur abrackern wird, ohne dass sich die Situation verbessert, bis man irgendwann viel zu früh stirbt.
Oder auch die Frage: Warum ich? Warum muss ich so leben, und andere nicht?
Ich bin mir so sicher, dass von all den Patienten, die täglich mit Kopfschmerzen, Bauchschmerzen oder „general body pain“ zu uns kommen, sehr viele einfach unter massiven psychosomatischen Beschwerden aufgrund von Stress und Druck und Ängsten leiden.

Und ich denke, da gibt es auch viel Enttäuschung und Wut. Wut über diese Lebensumstände, Zorn darüber, dass andere Leute schicke Apartments oder Häuser besitzen, während man selbst in einer
Wellblech – Hütte leben muss. Während man als Frau verantwortlich für die Erziehung und den gesamten Haushalt ist, oftmals auch noch für die Angehörigen des Ehemanns, und oftmals sogar noch nebenbei irgendwo arbeitet. Während man als Mann unter Druck steht, der finanzielle Hauptversorger zu sein und/oder erwartet wird, den Weg nach Europa anzutreten, um Geld nach Hause zu schicken. Wohingegen andere Menschen ohne viele Verpflichtungen ihr Leben genießen, reisen, Party machen, sich beruflich und privat selbst verwirklichen können. Sehr viele äußern auch Unmut über die Regierung, über den Präsidenten, der angeblich immer nur Versprechungen macht und bis jetzt nichts verändert hat.
Dass meine Mitmenschen, vor allem im Arbeitsplatz, so wahnsinnig viel Zeit an ihren Handys verbringen, auf TikTok, auf Instagram, auf YouTube, gibt mir das Gefühl, dass viele von ihnen wenigstens für einen kurzen Moment immer wieder ihrer jetzigen Realität entfliehen möchten. Von anderen Lebensmodellen zu träumen. Wenn ein Familienmitglied es „geschafft“ hat, und nun in Italien, Deutschland oder England lebt, wird das auch auf social media immer wieder stolz präsentiert.
Deswegen wäre ich mit den oben genannten Aussagen immer vorsichtig. Ja, vielleicht sind viele Menschen hier glücklich. Und bestimmt sind genauso viele, oder mehr, todunglücklich. Einer meiner Freunde hier sagte mir: „Ich wäre lieber jedes Mal auf meinen Backway – Reisen gestorben, als das hier noch weiter ertragen zu müssen“ und das war bezeichnend genug. 
Ja, meine Mitmenschen und Freunde hier sind tapfer, unendlich mutig, stark und wunderschön. Meine Mitmenschen sind so wahnsinnig gut darin, zu teilen und zu geben, obwohl sie selbst wenig haben. Aber glücklich? Wie definiert jeder einzelne „glücklich sein“?

Ich kann mir nicht anmaßen, das zu beurteilen, denn auch wenn ich hier mit ihnen zusammen lebe, weiß ich, dass ich in vier Monaten wieder in mein privilegiertes Leben zurückkehre. Und in diesem Leben war ich auch immer schon. Ich werde nie wissen, wie es sich anfühlt, hier aufzuwachsen und hier dauerhaft zu leben. Ich kann es nur erahnen. Doch, ich würde schon sagen, dass sich in Deutschland viel beschwert wird und die eigenen Privilegien nicht in der Form erkannt werden können. Ich war dazu vor diesem Aufenthalt auch nicht in der Lage. Ich bete zu Gott, die Fähigkeit zu haben, dieses jetzige Wissen mitnehmen und in meinen Alltag integrieren zu können, denn ich will nicht mehr der Mensch sein, der ich vor Gambia war. Nie wieder. Ich hoffe nur, er gibt mir die Weisheit und sie Kraft, das zu schaffen.

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