Getrennte Wege

Jede Zeit auf dieser Welt ist begrenzt. Alles geht zu Ende – manches früher als später. Dazu zählte die Zeit mit meiner Gastfamilie.
Obwohl es sich in den letzten Monaten immer schon seltsam und unpassend angefühlt hatte, das zu sagen. Das Wort passte immer weniger zu meinen Gefühlen. Aus Gastfamilie wurde „die Menschen, mit denen ich zusammenlebe“ und aus „Zuhause“ wurde „der Compound, in dem ich lebe.“ Diese Veränderungen, begleitet von vielen weiteren, kamen schleichend. Aber unausweichlich. Es begann mit einem Zwischenfall im Februar, von dem die Dynamik sich nie wieder richtig erholen konnte.
Im Nachhinein weiß ich genau, dass es ein unfassbar schwerer Fehler war, sich mit jemandem aus der Familie einzulassen. Das war allein ich, dafür trage ich die Verantwortung. Ich hatte mir vorher viele Gedanken gemacht, auch Vorbehalte gehabt, mich dann aber doch dafür entschieden. Naiverweise gehofft, dass es schon alles weitergehen würde, auch wenn es nicht funktionieren sollte. Und es funktionierte auch leider nicht. Das merkte ich schon nach kurzer Zeit. Ich beendete es. Es war das einzig Richtige. Hätte ich gewusst, was das alles für Konsequenzen mit sich ziehen würde, hätte ich mich so weit von diesem Menschen entfernt wie nur irgend möglich. Ich war viel zu kurz dort, um die Dynamiken zu begreifen. Zwischen ihnen, und zwischen ihnen und mir.
Hinterher ist man immer schlauer. Es gab keinen Tag, an dem ich meine Entscheidung nicht bereut habe.
Rückblickend würde natürlich jede Seite über sich selbst sagen, dass sie mehr dafür getan hätte, um das alles wieder in Ordnung zu bringen. Ich für meinen Teil weiß, welchen Anteil ich an der Situation hatte – aber ich weiß auch, welche Anstrengung ich unternahm, um alles wieder herumzureißen.
Und das war nicht wenig. Zum Beispiel hatte ich in den gesamten 6 Monaten alles getan, um dem kleinen A. , Adama, ein schönes Leben zu ermöglichen, einen guten Einfluss zu nehmen, ihn einfach glücklich zu machen, wie auch immer man es nennen will. Adama war wie mein Sohn. Manchmal nannte er mich auch Mummy. Wenn ich die Möglichkeit hatte, nahm ich ihn überall mit hin, setzte ihn auf meine rechte Hüfte, und er kam mit. Wir machten Tagesausflüge, zum Strand, ins Einkaufszentrum, ich brachte ihn mit aufs Vereinsgrundstück, wir schauten Bücher an, spielten Fußball, spazierten durch Brikama oder Gunjur. Ich finanzierte alles, und das waren die besten Investitionen, die ich machen konnte. Ich hätte auch gerne für seine Grundschule gezahlt, wenn es dazu gekommen wäre.
Ich sprang auch öfter ein, wenn jemand krank war. Kaufte Schwangerschaftstests, Medikamente, Vitamine, ich machte Verbandswechsel mit meinem Material für jeden, der mich bat. Ich bot meiner „Gastmutter“ auch an, für ihren Behandlung aufzukommen, weil es mir leid tat, dass sie durchgehend solche Schmerzen hatte. Ich versuchte, aufmerksam und großzügig zu sein. Abends kaufte ich mir oft irgendetwas zu Abendessen im Shop oder auf dem Markt und gewöhnte mir an, F und Adama auch jedes Mal zu fragen, ob sie etwas wollten. Und das taten sie. Dann brachte ich es mit. Also aßen wir oft auf meine Kosten zu Abend. Das Geld in all diesen Szenarien war und ist mir nach wie vor völlig egal. Mir ging es immer nur um die Reaktion beziehungsweise das Fehlen jeglicher. Ich überlegte zusammen mit meiner Mutter, über welche Geschenke aus Deutschland sich die Familienmitglieder freuen würden. Wir überlegten echt lange. Meine Mutter kaufte sehr viel ein und brachte sehr viel für alle mit, als sie dann nach Gambia kam.
Ich bemühte mich wieder mehr, immer genau zu sagen, wo ich hinging, und mit wem. Das hatte ich etwas lockerer angehen lassen, aber ich änderte es wieder, es tat mir ja nicht weh. Sie waren wieder vollkommen informiert über alles, was ich machte, und wann. Ich dachte immer, wenn ich mich nur genug anstrenge und guten Willen zeige, würde ich irgendwann wieder liebevollen und wertschätzenden Umgang erfahren. Aber auch nach vielen Monaten, war das, was übrig geblieben war, hauptsächlich Desinteresse und an vielen Tagen unterschwellige Feindseligkeit. Ich dachte damals im April an einen Wechsel. Ich dachte an Adama. Ich wollte nicht von Adama weg, aber ich wollte auch nicht weiter in so einer Atmosphäre leben.
Gib der Sache noch eine Chance. Gib deinen Leuten die Chance, das mit dir zu klären“ sagte B zu mir am Telefon. Er war im Senegal, und wir redeten jeden Abend nach Iftar. Die Verbindung brach ständig ab und wir mussten den Anruf und die Gespräche immer wieder neu ansetzen, aber er blieb auch nach dem zehnten Mal geduldig und einfühlend.
Ich kann das nicht mehr, ich möchte nicht mehr. Ich habe schon so viel Geduld gehabt, wäre ich in meinem eigenen Land, würde ich so eine Situation niemals so lange auf Dauer hinnehmen“ flüsterte ich am anderen Ende des Compounds, ständig in Sorge, jemand der zahlreichen Nachbarn würde alles mitanhören. Ich war fertig mit den Nerven. „Warum bin ich permanent in der Position, herausfinden zu müssen, was ich falsch gemacht haben könnte? Niemand spricht mit mir.“
Ich weiß. Aber manchmal muss man im Leben die größere Person sein.“

Ich suchte das Gespräch mit F, was mir sehr schwer fiel. Hoffte auf Ehrlichkeit. Bekam keine.
Ich habe kein Problem, Jalika. Was soll ich für ein Problem haben? Nein, ich habe keine Ahnung, was du meinst.“ 
Obwohl ich es inzwischen schon mehrfach über Dritte gehört hatte. Meine Mitfreiwilligen und deren Gastfamilien waren nur ein Beispiel. Es wurde permanent über mich gesprochen.
Ich musste also S hinzuziehen, damit ein offenes Gespräch möglich war. M tat so, als wüsste sie von nichts. Als hätte sie mit all dem nichts zu tun. F war wenigstens ehrlich und gab zu, dass für sie Dinge nicht stimmten. Und wir entschuldigten uns beieinander, versprachen, uns zu besser, versprachen vor allem, von nun an offen zu kommunizieren. Für einen Moment sah es wirklich gut aus. Der Moment war aber genauso schnell wieder vorbei.
Ich weiß, dass ich versucht habe, Transparenz zu schaffen. Ich weiß das, Gott weiß das, und im Grunde ihres Herzens wissen es die anderen auch. Man kann aber auch nur so weit kommen, wenn dein Gegenüber bereit ist, mitzumachen. Irgendjemand muss immer mitmachen. Und das war nicht der Fall. 
Das Schlimmste an der Situation war, dass es keinerlei Beständigkeit gab. Eine Woche lang war es friedlich, vielleicht sogar nett. Die nächste Woche war die Stimmung wieder komplett umgeschlagen. Am Tag wurden höchstens zwei Sätze mit mir gesprochen und niemand schaute mir in die Augen. Ich fragte mich mehr als einmal, ob ich langsam den Verstand verlor.
Nein. Mit meinem Verstand ist alles in Ordnung. Und mit mir erst Recht.
Ich kann sehr gut unterscheiden zwischen all den anderen Familien, die ich kennenlernen durfte, die sich jedes Mal freuten, mich zu sehen, mich in den Arm nahmen und mir sagten, wie toll sie mich fanden, und den Menschen, mit denen ich zusammenlebte. Paradebeispiele waren immer die Familien von Fatou Jobe und B. Dort ging es auch nicht um Kosten – Nutzen. Niemand aus diesen Familien hat mich jemals um irgendetwas gebeten. Fakt ist, ich war an allen Orten dieselbe Person.

Natürlich kann man sagen: es ist immer ein Unterschied, ob man zusammenlebt oder zu Besuch ist. Aber ich verbrachte auch oft mehrere Tage hintereinander bei Fatou Jobe. Gerade, weil ich dort eine Geborgenheit vorfand, die ich in meinem eigenen Compound nie hatte. Und ich bekam auch mit, wie die Stimmung in den Gastfamilien von Ava und Theresa war, wenn ich dort Zeit verbrachte. Das war ein Unterschied wie Tag und Nacht. Auf jeden Fall waren auch dort alle freundlicher.
Zu Ava und Theresa, zu mir, aber auch zueinander. Es ist wirklich unglaublich anstrengend, wenn sich deine Mitmenschen untereinander größtenteils durch fauchen und schreien verständigen. In den Sprachnachrichten an meine besten Freundinnen hört man immer jemandem im Hintergrund schreien, egal, wie laut ich spreche.

Ich versuchte, mich irgendwann nicht mehr in der Opferrolle zu sehen, ich war müde davon. Ich hatte es extrem satt, mich permanent zu fühlen, als würde ich im Staub kriechen – außerhalb des Compounds gab es schon genug Staub. 
Also sagte ich mir, okay, wir müssen ja keine family sein, das kann man nicht erzwingen. Ich lebe hier zur Miete, ich lasse es irgendwie laufen. Konzentriere mich auf andere Sachen. Nehme die bedingungslose Liebe und Wertschätzung meines kleinen Ersatz – Sohnes mit und ansonsten nichts. Und das funktionierte auch eine Weile für mich, bis ich im Juni beschloss, den ersten Tag der islamischen Feiertage (Tobaski) woanders zu verbringen. Bei B zuhause. Das hatte vielleicht am meisten mit der darauffolgenden Reaktion zu tun. Aber wenn es nicht das gewesen wäre, wäre es dann am nächsten Tag eskaliert, wenn ich angekündigt hätte, zu Fatou Jobe zu gehen? Ich weiß es nicht. Es war von vornherein mein Plan gewesen, den ersten Feiertag bei meinem Partner und den zweiten bei meiner besten Freundin zu verbringen. Ich hatte nicht um Erlaubnis gebeten oder das angekündigt, denn ich fand, irgendwo hatte das Ganze auch eine Grenze. 
Außerdem hatte mich auch niemand explizit gebeten, zu bleiben.
Aber wie so oft war die unausgesprochene Erwartungserhaltung wieder eine ganz andere. Nachdem ich also morgens freundlich mitteilte, dass ich nun in B‘s Dorf fahren würde...nachdem F mich daraufhin minutenlang anschrie...mich nicht ausreden ließ...mir mitteilte, dass ich alles falsch machen würde...und mich zum Schluss auch aufforderte, doch jetzt sofort zu gehen… fuhr ich also in B‘s Dorf. Wegen dieser Auseinandersetzung kam ich viel zu spät und konnte nicht mit zum kollektiven Beten. Ich war zittrig, und mir war übel. Ich trug eine Menge Make – Up, deswegen schaffte ich es irgendwie, nicht zu weinen. Aber ich hatte den ganzen Tag lang keinen Appetit mehr (es gab Schaf zu essen – ich hatte das Schaf einige Tage zuvor kennengelernt und mit Mango gefüttert), Herzrasen und ein schleichendes Engegefühl in der Brust.


Es war nicht so schlimm wie im April. Im April hatte ich mal einen ganzen Tag auf dem Compound von L.S. verbracht, wo ich eine Panikattacke jenseits von Gut und Böse erlebte. Seit Jahren hatte ich so etwas nicht mehr gehabt, nicht in der Form.
Beim Reden wurde mir schwindelig, es rauschte in meinen Ohren, und ich bekam mörderische Kopfschmerzen. Ich entschuldigte mich, unter dem Vorwand, plötzlich sehr erschöpft zu sein und mich etwas hinlegen zu müssen. Über mehrere Stunden war ich sicher, gleich einen Schlaganfall zu erleiden. Oder einen Herzinfarkt. Ich war mir nicht sicher. Dann dachte ich darüber nach, dass es hier weder CT‘s, noch MRT‘s, noch systemische oder lokale Lysen gab. Geschweige denn Krankenwagen. Von diesen Gedanken bekam ich noch mehr Herzjagen und Kopfschmerzen. Überzeugt, nun sterben zu müssen, nahm ich zwei Ibuprofen, legte mich hin und hoffte, es würde schnell gehen. Aus lauter Erschöpfung schlief ich dann ein und war später extrem überrascht, noch am Leben zu sein.
Das alles L.S. mitzuteilen, war ausgeschlossen für mich. Ich wollte nicht, dass er mich so erlebte. L.S. ist ja immer noch ein angeheirateter Verwandter von B. Es war jetzt auf keinen Fall der Zeitpunkt, an dem alle gleichzeitig von meiner Vergangenheit mit Panikstörungen erfahren sollten. Wer weiß, ob dieser Zeitpunkt überhaupt jemals kommen würde. Aber ich erzählte L.S. von meinen Problemen im Compound, sagte, ich hätte Spannungskopfschmerzen vom Stress. Er war sehr verständnisvoll und bot mir an, ich könnte auch übergangsweise bei ihm leben.
Abends redete ich mit meiner Mutter über alles, auf WhatsApp. Sie kannte die Vorgeschichte, alle Details. Niemand kennt mich so gut. „Panikattacken können ja oft bedeuten, dass die Situation, in der man sich gerade befindet, für einen selbst belastend oder nicht stimmig ist“ sagte sie, auf ihre ruhige Art und Weise, bei der ich mich immer sofort besser fühle. „Die sich nicht richtig anfühlt. Man sich aber nicht traut oder auf die Idee kommt, sie so für sich stimmig zu gestalten, sodass der Körper so krasse Signale senden muss und einen damit zwingt, etwas zu ändern. (…) Ich würde heute, nach meiner Lebenserfahrung nicht mehr versuchen, Dinge auszuhalten, die mir nicht entsprechen.“
Ich weiß noch, wie oft ich mir die Sprachnachricht anhörte.
Kurz danach fand das Gespräch mit meiner „Gastfamilie“ statt, und die Dinge sahen kurz besser aus, und dann wurde alles wieder genau wie vorher, und dann kam jener Tobaski.


Ich wollte an diesem Tag den Menschen, die ich liebe, nicht den Tag versauen, also behielt ich die Auseinandersetzung für mich. B hatte sowieso schon zu viele Gespräche mit mir über all diese Zwischenfälle geführt. Ich wollte das alles nicht schon wieder vor ihm thematisieren. Von Morgens bis abends versuchte ich also, fröhlich und entspannt zu wirken. Das fiel mir auch nie schwer, wenn ich mit B und seiner Familie zusammen war. Es war ein schöner Tag, trotzdem.
Trotzdem wurde ich auf dem Rückweg immer wütender, je näher ich wieder Brikama kam. Ich war abgrundtief frustriert, dass ich in einer Umgebung leben musste, die immer wieder solche Gefühle in mir auslöste. Zwei Drittel meines Aufenthaltes hatte ich schon so verbracht. Und auch bewusst so. Denn ich bin kein Mensch, der schnell aufgibt, oder hatte mir zumindest vorgenommen, es nicht zu sein. Und erst Recht nicht auf zwischenmenschlicher Ebene. Aber es war einfach genug.
Ich konnte nicht akzeptieren, angeschrien und beleidigt zu werden, weil ich einen Feiertag mit anderen Menschen verbringen wollte. Und nicht nur irgendwelchen Menschen, sondern der Familie meines Verlobten, meine Schwiegereltern, meine Bonusgeschwister.
Schon wieder war ein Tag, auf den ich mich schon lange gefreut hatte, von Unstimmigkeiten Zuhause total überschattet worden. Und so etwas passierte andauernd.
Es ging nicht mehr.
Zuhause angekommen, wollte immer noch niemand mit mir reden, aber das hatte ich auch nicht erwartet. Ich schmiss Sachen für mehrere Tage in meine Reisetasche und ging zu Ava nach Hause. Unter dem Vorwand, eine Auszeit zu brauchen. Auch, wenn ich wusste, dass es keine Auszeit war, sondern eher ein in-die-Länge-ziehen dessen, was ich eigentlich wollte, nämlich auszuziehen.
Ich fragte Fatou Jobe am nächsten Tag, ob ich vielleicht eine Zeit lang bei ihr leben könne. Es gab noch einige andere Optionen, aber ich wollte einfach bei ihr und ihren Geschwistern sein.
Natürlich“ sagte sie, mit ihrer sanften Stimme, die immer klingt wie eine Spieluhr, selbst wenn sie ihre 9 kleinen Geschwister zurechtweist. „Du kannst bei uns bleiben, so lange du willst.“

Ich verbrachte 3 oder 4 Tage abseits von allem. Ich duschte nach meinen Schichten im Krankenhaus, mit Zitronen – Allzweckreiniger, weil ich meine ganzen Kosmetikartikel in meinem alten Compound vergessen hatte und bei Fa der Wasserhahn kaputt war. Pendelte von Sifoe nach Brikama und zurück. Ich tat so, als wäre das ein spannendes Abenteuer und stellte mir vor, ich wäre wieder in Thailand und würde einen meiner Super – Low – Budget – Urlaube machen.
Aber ich fühlte ich trotzdem innerlich unruhig und sehnte mich danach, einfach mal herunterzukommen. Ich sprach nicht mit meiner „Gastfamilie.“ Sie riefen mich auch nicht an. Niemand von uns schickte dem anderen eine Nachricht. Im Grunde war mir das sehr recht.
Nach wie vor gab es noch einen Teil in mir, der darüber nachdachte, ob ich um Adamas Willen wieder zurück gehen sollte. Zurückgehen wollte.
Zwei weitere Zwischenfälle regelten das dann ganz allein.

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